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Kiez, Koks & Kaiserschnitt. Christian U. Märschel
Читать онлайн.Название Kiez, Koks & Kaiserschnitt
Год выпуска 0
isbn 9783847621805
Автор произведения Christian U. Märschel
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Schade, dass sich Menschen so schnell schematisieren lassen, in Gruppen zusammenordnen, in Schubladen stecken, das Kleinste Gemeinsame Vielfache ist schnell gefunden, das Wurzelziehen kein Problem. Jeder ist durch jeden teilbar, beliebig auswechselbar. Man erkennt sie: an den ganz bestimmten Verhaltensmustern. Schon nach kurzer Zeit. Wenn man genau hinsieht.
Mich wundert, mit welcher Selbstverständlichkeit und mit wie wenig erforderlichem Mut die Leute hier ans Werk gehen, frech und dreist zu sein, und für sich erst einmal den Platz in der Mitte beanspruchen. Alle die sich hier rumtreiben, sind schwach. Und die meisten dabei so stark. Alles Menschen, die nur mit Ihrer großen Klappe ihr kleines Leben regeln. Wenn sie es denn regeln. Kein Ehrgeiz, nur halbschlau, wie’s geht, weiß oder lernt jeder vom anderen, da merkt man schnell, wer die besten Lehrherren hatte.
Aber jeder selbst ist ein Individuum, er ist die Ausnahme, gut, dass sie nicht so geworden ist wie er und der doch ganz anders als der.
Jedem hier ist als Kind etwas für ihn persönlich ganz schlimmes passiert, weshalb er so geworden ist, wie er jetzt ist.
Da kommst Du erst etwas später dahinter. Nicht viel später. Weil jeder ganz toll ist und ganz gerne über sich redet. Und er oder sie erzählt Dir schon bald seine Lebensgeschichte, als wärst Du ein alter Freund. Du musst nur ein wenig fragen, am Anfang geschickt noch, nachher weniger, nach und nach läuft es dann wie von selbst. Und Du musst zuhören. Diesen armen Menschen hier hat nämlich vorher noch nie einer zugehört im Leben.
Die Eltern nicht, die hatten andere Probleme, die vermeintlichen Freunde auch nicht, deren Eltern hatten die selben Probleme, die waren aus der selben Ecke und wollten selbst, dass ihnen einer zuhört. Und so muss einer immer lauter schreien als der andere, damit man ihn dennoch ein wenig wahrnimmt im Gebell des Rudels. Und jeder muss immer toller sein in seinen Geschichten, immer das Schlimmste und noch Schlimmeres erlebt haben, am meisten vom Opa missbraucht worden sein.
Tänzerinnengeschichten. Kiezgeschichten. Zweifellos nicht alle erfunden.
Zweifellos mit einem mehr oder weniger großen Fetzchen Wahrheit daran. Und zweifellos tragisch, für solide Leute beinahe unerklärlich, nicht nachzuvollziehen. ‚Ja gibt’s das denn? Wie konnte der nur? Wieso hast Du denn nicht…? Und Deine Mutter denn…? Und was war mit dem Lehrer…? Niemand? Ganz allein?’
Ganz allein.
Und so langsam legen sie sich eine Rüstung zu. Lauter bellen. Lauter. Noch lauter. LAUT!!! Und siehe da: ein paar in der Meute drehen sich tatsächlich um! Sehen Dich an, sind aufmerksam geworden. So schlimm??
Ja, so schlimm.
So! geht das also.
Meistens sind es Frauen, Mädchen, halbe Kinder zum Teil noch, die hier arbeiten. Junge, hübsche, nette Dinger - auf den ersten Blick. Zweifellos - hübsch sind sie irgendwie alle. Sie pflegen die wenigen Habseligkeiten, die sie haben und die sie verkaufen können: ein nettes Äußeres, lange Beine, schöne Haare. Du wunderst Dich, in welch frechem, vorlautem Ton Dir eine hübsche Dame hier patzige Antworten geben kann? Bist Du nicht ihr Freund, dann bist Du ihr Feind. Oder ihr Freier, im Cabaret-Betrieb harmlos „Gast“ genannt.
Zwischen Freund und Feind gibt es nichts. Und alle sind zu blöd, zu dumm, halbschlau. Sie konnten auch gar nichts anderes machen, als hier ihre Trümpfe auszuspielen, die sie haben: das gute Aussehen, das sie glücklicherweise mitbekommen haben auf ihren harten Lebensweg, die egoistisch-arrogante, vorlaut-freche, rotzige Art, sich sofort und für alles zu rechtfertigen und zu wehren, auch wenn sie nur zu Unrecht annehmen, man wolle an ihrem Glamour kratzen. Und die langen Fingernägel, mit Vorliebe rot lackiert, die sie selbst oder ihre Kosmetikerin liebevoll gezüchtet und gestaltet haben, damit sie Dir, wenn nichts mehr hilft, damit die Augen auskratzen können.
Heutzutage –damals gab es die noch nicht für das Normalo-Girl, weil schlichtweg unbezahlbar – kommen auch noch die Platiktiten dazu, stolz vor die stolz geschwellte (oder geschwollene) Brust gehängt, je grösser, je besser – schaut her, meine neuen Titten, -Version 1- selbstbezahlt, ich mach tierisch Kohle!, oder –Version 2- vom Freier bezahlt, ich bin doch nicht so blöd und geb meine Kohle für sowas aus!
Wenn man all diese Veranlagungen mitbringt, ist es nicht schwer, das Geschäft der Abzieherei - das Geschäft des Kiez - auch noch zu lernen. Es bietet sich an, es gibt ja auch gar nichts anderes, was sich anböte, man muss nicht mehr die schon in der Vergangenheit gehasste und ohnehin schwierige Schulbank drücken, braucht keine Lehre zu machen und sich kaum unterzuordnen - und die, denen man sich dann doch hin und wieder mal beugen muss - gehören ja ins selbe Kader. Und in der Familie weiß man doch miteinander umzugehen.
Und wenn ich mir dies zusammengefasst so betrachte, dann sehe ich auf einmal klar. All dies zuvor gesagte trifft gleichermaßen auf alle Damen in meinem Umfeld zu - mehr oder weniger, in der ein- oder anderen Weise.
Leute, die keine Verträge abschließen wollen, sich nicht festlegen wollen, immer auf dem Weg sind und nie ans Ziel kommen, weil sie nicht wissen, wo das Ziel ist. Die immer Letztens schon was ganz anderes machen wollten aber nun ja doch noch ein bisschen müssen, weil - das Geld, das schöne Geld, wäre ja auch schade drum, wo verdient man denn heute noch so schnell so viel Geld mit so wenig Arbeit - als halbschlauer Mensch, nicht bereit, sich zu verändern, anzupassen, etwas dazuzulernen?
Und so wird aus der einst strebsamen, hübschen Hauptschülerin mit Qualifikation zur Sonderschulreife, die noch nie so richtig wusste, was sie nun eigentlich werden wollte, außer schnellstens geheiratet, außer aber vielleicht doch Altenpflegerin? - eine Tänzerin. Und siehe da, wer hätte das zuvor geahnt? - eine gute sogar noch, eine sehr gute, ja! Das spornt doch an! Da tut sich doch eine neue Chance auf! Da kann man noch was werden in dem Job, ohne lange Anlaufzeit, ohne große Mühen, nur mit den gottgegebenen Gaben (und kleinen Korrekturen des Schönheitsgottes) und unter seinesgleichen, die auch alle so viel Selbstbewusstseinsprobleme haben, wenn sie ehrlich sind, und man ist ehrlich, untereinander, muss man ja, und wenn man mit einer Selbsterkenntnis der erste ist, dann hört einem wenigstens noch einer zu!
Da gibt es auch die ewig Gestrigen, die voll auf der Überholspur ständig in der Vergangenheit leben, mit ihrem ganzen Seelenmüll, das sind die anderen fuffzig Prozent, mit hundertachtzig Sachen rückwärts in die Parklücke, die alles souverän und obercool meistern, im Rampenlicht stehen und immer wieder glänzend aussehen. Nach dem