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Wahrscheinlich, weil sie ihr nie widersprach. Papa hielt das auch für das Beste.

      “Hast du gesehen, wie zornig Isabell mich heute angeschaut hat?” fuhr sie fort, so richtig schön in Fahrt. “Nach allem was ich für die Kinder tue. Undank ist der Welten Lohn. Sie meinte doch tatsächlich, dass Adam und Eva in der Bibel nur symbolisch gemeint seien. Kannst du das glauben?” zeterte meine Mutter weiter. “Wo sie nur solche Sachen herhat? Vielleicht sollte ich morgen gleich einen Termin beim Arzt machen.”

      Ich hatte den Verdacht, dass es dabei weniger um mich ging. Sie hatte eine Schwäche für Ärzte.

      “Na gut, wenn du meinst es sei unbedingt notwendig unsere Isabell wieder zu irgendeinem Quacksalber zu schleppen, dann mach’ das. Du hörst ja doch nicht auf mich.” Papa zündete eine Zigarre an. Süßlicher Rauch durchzog den Flur.

      “Walter, wie kannst du so etwas sagen? Ich höre zu.”

      “Ich habe dir doch gerade gesagt, dass mit ihr nichts verkehrt ist. Nur weil sie eine andere Meinung ist, hat sie noch lange keinen Gehirntumor. Vielleicht solltest du sie einfach in Ruhe lassen, dann gehen die Kopfschmerzen schon wieder weg.”

      “Aha, jetzt ist es also wieder meine Schuld. Isabell bringt es immer fertig sich zwischen uns zu drängen. Wir zanken uns schon wieder wegen ihr. Ich arbeite mich schließlich in Grund und Boden für dich und die Kinder. Da darf ich wohl ein wenig Respekt erwarten.”

      Meine Mutter fing an zu schluchzen. Es ging auf die gefährliche Grenze zu. Ich musste mich einschalten, sonst würden sie sich wieder stundenlang in die Haare kriegen. Ich platzte ins Zimmer und fing an wie ein Rohrspatz zu schimpfen.

      “Könnt ihr euch mal einen Tag nicht streiten? Verdammt, da kann sich ja kein Mensch beim Lernen konzentrieren!”

      Die beiden sahen mich verblüfft an.

      “Da hörst du’s Walter,” rief meine Mutter. “Sie flucht und schimpft als wäre ich ihre Dienstbotin. Ihr gehört eine ordentliche Tracht Prügel!”

      Mein Vater schickte mich mit einer Kinnbewegung aus dem Zimmer und musste sie trösten. Das Schluchzen verstummte. Mein Eingriff hatte gewirkt. Immerhin ging das Gespräch jetzt in normalem Ton weiter.

      “Ich bin mir nicht sicher, dass Prügeln da einen Unterschied macht. Um ehrlich zu sein, glaube es macht es alles nur noch schlimmer.”

      “Wieso? Mir hat das als Kind doch auch nichts geschadet.”

      Mein Vater hüstelte wissend, aber es war sinnlos mit ihr zu diskutieren.

      “Ich sehe schon, ich rede doch nur gegen die Wand. Ich brauche jetzt meine Ruhe,” sagte er. Papa nahm seine Pfeife und setzte sich hinten auf den Balkon, um wie so oft die Sterne anzusehen, während meine Mutter in der Küche mit dem Geschirr herumklapperte.

      Meine Mutter setzte sich durch, sie war angeblich mit ihren ‘Nerven am Ende’. Ich musste wieder in die Klinik zu einer Untersuchung. Meine Patientenakte war sicher schon am Platzen. Mein schreckliches Benehmen wollte sich trotz der Schläge einfach nicht bessern. Außerdem ich hatte es gewagt, zurückzuschlagen. Das passte Papa wiederum nicht.

      Alles nur wegen so einem blöden Buch.

      Meine Mutter hatte das Buch ‘Die gute Ehe’, in dem Evelyn ein Kapitel über Sex entdeckt hatte, im Kühlschrank gefunden. Ich hatte es dort schnell versteckt, als sie zur Tür hereinkam. Über Sex wurde bei uns nie geredet und wir mussten uns eben anderweitig informieren.

      ‘Warum entschuldigst du dich nicht einfach?’ hatte mir Evelyn mal wieder vorgeworfen. ‘Du bist doch blöd, dich immer so stur zu stellen.’

      Die hübsche, blonde Evelyn schluckte gewöhnlich ihren Ärger und Schmerz hinunter, was sie dann später an mir ausließ. Am liebsten verhöhnte sie mich vor ihren Freundinnen.

      ‘Was ist denn schon so schlimmes daran ein Buch zu lesen, das sogar noch ihr gehört?’

      ‘Darum geht es doch gar nicht. Du warst frech zu ihr. Willst du, dass sie Papa sagt, dass er dich schlagen soll, wenn er heute Abend von der Arbeit kommt?’

      ‘Ich werd‘s ihm erklären. Du kannst von mir aus nachgeben, aber ich werde das nicht tun!’ erwiderte ich trotzig und Evelyn gab seufzend auf.

      ‘Ach, lass sie doch einfach,” mischte sich Paula ein. “Die hat doch’n Knall.’ Paula verstand es hervorragend ihre eigenen ‘Sünden’ auf uns ältere Schwestern abzuschieben und wir mussten dann alles ausbaden.

      ‘Du musst gerade reden. Du Biest,’ rief ich aufgebracht.

      Wir waren jetzt schon zu alt, um uns noch zu raufen, aber ich gab ihr meinen giftigsten Seitenblick.

      Ich hatte das Buch dummerweise im Kühlschrank vergessen und es verschwand danach auf Nimmerwiedersehen. Unsere Aufklärung war damit noch lange nicht am Ende. Evelyn hatte schon ein anderes Buch über die Borgia-Päpste im Bücherregal entdeckt und es unter ihrer Matratze versteckt. Verwerflich, aber spannend. Meine Mutter schien nicht zu wissen, welcher Lesestoff da in ihrem Wohnzimmer lauerte. ‘Die gute Ehe’ war ein Kinderbuch dagegen.

      Abends rastete unsere Mutter wie erwartet aus. Sie wartete noch nicht mal bis Papa von der Arbeit nach Hause kam. Das konnte ich mir nicht mehr gefallen lassen. Ich schlug zum ersten Mal zurück und es blieb natürlich nicht beim Hausarrest.

      Der Kinderarzt konnte nichts Ungewöhnliches finden. “Kopfschmerzen und Magenkrämpfe sagen Sie, Frau Bertrand? Vielleicht sind die Symptome bei ihr ja psychosomatischer Natur. Und das aggressive Verhalten ist ja heutzutage nichts Neues. Gehen Sie mit Isabell zur Elternberatung, da kann man Ihnen vielleicht weiterhelfen.”

      “Ja, wenn Sie meinen Herr Doktor,” säuselte meine Mutter. “Sie wissen ja wovon Sie sprechen.”

      Wie zu erwarten war, befolgte sie den Rat des charmanten Arztes und ich wurde vorgeladen.

      Die Sozialarbeiterin, die sich auf ‘schwierige Jugendliche’ spezialisierte, sah ganz und gar nicht so aus, wie ich mir eine Sozialarbeiterin so vorstellte. Im strengen Kostüm nämlich, mit hochgesteckten Haaren und verkniffenem Mund.

      Diese Sozialarbeiterin in ihrem fließenden Kaftan, mit den langen blonden Haaren und klingelnden Armreifen aus Messing, glich eher einer coolen Folksängerin wie Joan Baez. Zuerst musste ich alleine zu ihr ins Büro. Meine Mutter schnüffelte beleidigt, nahm dann aber die Hand meines Vaters und blieb folgsam im schmucklosen Wartezimmer sitzen.

      “Isabell,” begann Joan Baez nach einer kurzen Vorstellung. “Versuche dich doch mal daran zu erinnern, wann du zum ersten Mal diesen tiefen Ärger empfunden hast.”

      “Weiß ich nicht,” sagte ich verstockt. Warum wollte sie das wissen und wieso sollte ich ihr vertrauen?

      “Das weißt du nicht oder du kannst dich daran nicht mehr erinnern?” Sie kritzelte etwas auf mein Formular und betrachtete mich eingehend über dem Rand ihrer riesigen Brille. Die gab ihr das Aussehen einer Eule.

      “Ich habe doch gesagt, dass ich es nicht weiß,” erwiderte ich patzig.

      “Kein Grund zur Aufregung —” versuchte sie das schwierige Kind fachgerecht zu beruhigen und schrieb noch etwas auf, dass die Armreifen nur so klirrten. Dann rief sie meine Eltern herein.

      Die Erwachsenen sprachen über mich, als sei ich nicht anwesend und ich schaltete erst wieder ein, als meine Diagnose bevorstand: beginnende Depression durch ein unbestimmtes Trauma in der frühen Kindheit. Oder so was ähnliches. Joan Baez empfahl einen angesehenen Psychologen, der innovative Hypnotherapie praktizierte. Einen gewissen Dr. Albrecht.

      Ein Psychologe! Hatte ich etwa die Probleme meiner Mutter geerbt? War ich drauf und dran so zu werden wie sie? Ich panickte in aller Stille und mein Magen schmerzte.

      “Sie sind stehen nicht allein mit diesem Problem, Herr und Frau Bertrand.” Die Sozialarbeiterin sah ermunternd über den Rand ihrer Eulenbrille. Sie sollte sich eine andere Brille zulegen.

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