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gezeigt wurden, ohne Rücksicht auf Stile und Themen, die die einzelnen Objekte verkörperten. Um 15:00 Uhr hatte Heinz Kühler für den ersten Tag genug. Er durfte die Bände, die er noch nicht durchgesehen hatte, an seinem Platz liegen lassen. Es war fast wie in einer richtigen Bibliothek. Der Instruktor fertigte sogar ein Kärtchen mit dem Namen des Benutzers an und stellte es neben die Bücher.

      Am nächsten Morgen war er bei Weitem nicht der Erste im Tate-Archiv. Er kam diesmal erst gegen zehn. Neben seinem Arbeitsplatz hatte sich ein sehr britisch aussehender älterer Herr eingerichtet. Sie begrüßten sich mit einem Nicken, ohne etwas zu sagen. Heinz Kühler musste sich erst einmal wieder orientieren. Seinen Notizblock hatte er gestern auch liegen gelassen. Es waren gerade einmal anderthalb Seiten, auf denen er sich Notizen zu bestimmten Ausstellungen gemacht hatte. In einem zweiten Block hatte er auf immerhin gut zehn Seiten alle Kataloge verzeichnet, die er durchgesehen hatte. Es war der aufwendigste Teil seiner Recherche. Neben den Titeln der Ausstellungen hatte er auch das Jahr und die Anzahl der gezeigten Objekte notiert. Später würde er die Liste im Sekretariat seines Chefs von Frau Hoischen oder von einer der anderen Damen abschreiben lassen. Die Liste diente dann als Beleg für seine Arbeit. Für den Fall, dass ihn später irgendjemand noch einmal auf eine Ausstellung aufmerksam machen würde, könnte er mit der Liste immer nachsehen, ob er die Unterlagen nicht doch schon bearbeitet hatte. Die jetzt noch handschriftliche Liste würde in den nächsten Stunden noch länger werden.

      Die meisten privaten Sammler besaßen aus dem Werk von Paul Gauguin nur einzelne Zeichnungen oder Aquarelle, die sie zum Teil gemeinsam mit den Besitztümern anderer Sammler präsentierten. Heinz Kühler hatte schon bei den Museumskatalogen immer mit der Gegenwart begonnen und war dann in der Zeit weiter zurückgegangen. Dies hielt er auch bei der Durchsicht der Privatsammlungen so. Anfangs bestanden die Kataloge und Verzeichnisse noch aus prächtigen Fotografien der gezeigten Bilder. In der Zeit vor 1950 dominierten dann Schwarzweißaufnahmen. In einem der Kataloge waren überhaupt keine Bilder enthalten. Die Objekte wurden lediglich bis ins Detail beschrieben. Die Fotos machten es natürlich leichter. Heinz Kühler musste jetzt die einzelnen Abschnitte genau durchlesen. Die Kreidezeichnungen und Aquarelle hatte er zunächst überschlagen. Er suchte nach einem Ölgemälde. Es fand sich unter den gut dreißig Werken nur ein einziges, ein Stillleben. Er blätterte zurück zum Anfang und ging jetzt alle anderen Texte durch. Er überflog die Seiten meistens nur und suchte dabei nach Begriffen, die etwas mit Edmund Linz Gauguin zu tun haben konnten. Die Aquarelle waren in der Mehrzahl. Der Titel eines Bildes lautete »Die Hirtin«, wenigstens ein weibliches Modell, während die vorherigen Seiten oft nur Landschaften oder Brücken beschrieben. Er las jetzt etwas langsamer. Er übersprang zwei Zeilen, weil sein Auge unbewusst etwas wahrgenommen hatte. Er fand die Stelle, »...bretonischer Mädchenkopf«. Ihm vielen sofort die Worte von Claudius Brahm wieder ein. Claudius Brahm sprach von einer bretonischen Bauerntochter, die Gauguin als Basis für das Motiv des kleinen Mädchens verwendet haben könnte. Er konnte das Kind im übertragenen Sinne von der rauen Atlantikküste mit in die liebliche Südsee genommen und sie in eine neue Umgebung hineinversetzt haben. Es konnte sich dabei um ein stilistisches Mittel handeln, das in der Kunst durchaus üblich war und auch noch heute ist.

      »Bretonischer Mädchenkopf«, sagte Heinz Kühler laut vor sich hin.

      Der Mann am Nebentisch sah kurz zu ihm herüber. Dann war für einige Sekunden wieder Stille, bis Heinz Kühler ruckartig aufstand. Der Stuhl polterte und er entschuldigte sich für den Lärm. Wo war der Instruktor. Sein Platz war leer. Während Heinz Kühler auf das Pult zuging, sah er sich in den Gängen um. Er hatte Glück, gleich hinter einer Säule zog der Instruktor einen Band aus dem Regal und übergab es an einen seiner Kunden. Heinz Kühler winkte ihm zu und der Instruktor kam ihm langsamen, mit bedächtigen Schritten entgegen.

      »Ich suche etwas«, flüsterte er halblaut, als ihn der Instruktor fast erreicht hatte.

      Mit dem Zeigefinger an den Lippen wies der Instruktor in Richtung seines Schreibtisches, der außerhalb des Lesesaals stand. Sie gingen gemeinsam hinüber, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

      »Ich suche etwas«, wiederholte Heinz Kühler, als sie den Arbeitsplatz erreicht hatten. »Ich habe einen Begriff und den Titel eines Bildes des Malers Paul Gauguin. Leider fehlt mir eine Abbildung. Haben Sie die Möglichkeit danach zu suchen?«

      »Wir haben selbstverständlich eine elektronische Stichwortsuche«, erklärte der Instruktor, »aber es kommt natürlich auf das Stichwort an, das Stichwort darf nicht zu trivial sein, ansonsten gibt es zu viele Treffer.«

      »Ich habe drei Begriffe. Gauguin, Hirtin und bretonisch. Lässt sich damit etwas machen?«, fragte Heinz Kühler.

      Der Instruktor nickte. Er hatte sich die Begriffe sofort notiert und suchte jetzt nach der richtigen Software auf seinem Computer.

      »Es wird sicherlich einen Moment dauern. Sie können sich wieder setzen. Ich werde an Ihren Tisch kommen«, sagte er und blickte zum Eingang des Lesesaals.

      Heinz Kühler blieb noch einige Sekunden stehen, als habe er nicht richtig verstanden. Dann bedankte er sich und ging wieder zurück an seinen Schreibtisch. Es dauerte eine halbe Stunde. Der Instruktor hatte sogar einen Band unter dem linken Arm, als er wieder langsam und diesmal noch bedächtiger den Lesesaal durchschritt. Er legte das Buch auf den Tisch an Heinz Kühlers Platz ab und blätterte nach einem Lesezeichen, das er hineingelegt hatte. Heinz Kühler erkannte das Bild sofort. Das Mädchen hatte eine dicke Nase und grobe, etwas dümmlich wirkende Gesichtszüge. Beim zweiten Hinsehen waren ihre Gesichtszüge aber wohl eher das Ergebnis täglicher, harter Arbeit schon von Kindesbeinen an. Er kannte das Bild, weil er es bereits gestern einmal gefunden hatte. Das Aquarell hatte nichts mit der kleinen Julie aus der Südsee zu tun, nicht das Geringste. Er bedankte sich bei dem Instruktor und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen.

      Er hatte bis zum Abend noch einige Kataloge vor sich. Einen vermeintlichen Treffer, wie der mit dem bretonischen Mädchenkopf, erzielte er nicht mehr. Das Fazit der vergangenen beiden Tage war ernüchternd. Die Tate Gallery konnte ihm nichts über das Gauguin-Gemälde sagen, das zu diesem Zeitpunkt in München, im Keller des Kunst- und Auktionshauses Blammer sicher verwahrt wurde. Bei allem, was er bisher recherchiert hatte, gab es im Werk des Malers Paul Gauguin keinen Hinweis auf ein kleines Mädchen namens Julie. Es gab keinen Anhaltspunkt auf eine Julie des Bois, es gab auch keine bretonische Bauerntochter, die mit dem Mädchen auf dem Ölgemälde Ähnlichkeit hatte, es gab nicht einmal irgendein Kind in den Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, das der Kleinen mit dem Sonnenhut glich. Heinz Kühler gähnte, als er sich aus der Liste der anwesenden Besucher im Tate-Archiv in London austragen ließ. Draußen, auf dem Platz, atmete er die frische Luft tief ein und rieb sich die Augen.

      *

      Florence war in Gedanken. Sie formte das Wort Fotografie lautlos mit ihren Lippen. Und dann war es wieder da, wieder vor ihrem Auge, jetzt erinnerte sie sich. Die Fotoausstellung in einem der Stationsflure. Es war in der orthopädischen Abteilung und einige hingen auch in der Inneren. Sollte das ein Zufall sein. Sie betrachtete sich das Bild des Ölgemäldes auf ihrem Computermonitor. Sie glaubte, das Gesicht des kleinen Mädchens schon einmal auf einer Fotografie gesehen zu haben oder gab es nur Ähnlichkeiten. Ohne weiter zu zögern machte sie sofort einen Schwarz-Weiß-Ausdruck. Der Drucker in ihrem Büro ratterte und schob das Blatt langsam heraus. Sie nahm es, wedelte noch ein paar Mal damit und verließ dann ihr Büro in Richtung der Krankenstationen. Die Fotogalerie, die sie suchte, gehörte ursprünglich zu einer Ausstellung im Gemeindehaus von Taiohae. Vor zwei oder drei Jahren wurden die Bilder dann als Dauerleihgabe an das Krankenhaus gegeben, wo sie jetzt in den Fluren der beiden Stationen hingen. Florence war schon häufig daran vorbeigelaufen und hatte sich die Aufnahmen immer mal wieder angesehen. Die Bilder stammten aus einer Zeit, als erst wenige Franzosen auf den Marquesas lebten. Das europäisch geprägte Leben in Polynesien spielte sich um die Jahrhundertwende mehr auf Tahiti ab. Die Marquesas lagen eher abseits davon, eigentlich lagen sie auch noch heute abseits der polynesischen Metropolen, aber es hatte sich mit dem Flugverkehr und den schnellen und recht häufigen Schiffsverbindungen natürlich schon sehr viel verändert. Florence erreichte die orthopädische Abteilung. Diese Station war dem Haupteingang des Krankenhauses am nächsten. Gleich hinter der Verbindungstür im Flur, von dem die gut zehn Zimmer abgingen, begann die

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