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organisiert. Letztlich war das eine Absprache mit unseren Nachbarn hier um den grünen Rasen, die über Wühlmäuse klagten. Die Schleiereulen verringerten ihre Zahl überraschend effektiv. Sie fressen natürlich auch andere kleine Tiere, doch ich denke, im Großen und Ganzen ist der Mensch mit ihrem Speiseplan einverstanden.«

       »Verallgemeinerungen sind grundsätzlich problematisch«, wandte Raymund ein.

       Roger grinste: »Stimmt, was heißt schon ›der Mensch‹. Ihr Onkel liebt seine Haselmäuse und hat deswegen nicht viel übrig für die Eulen. Ich nehme an, deine Katze respektiert deinen Wunsch?« Raymund nickte und Rogers Vergnügen wuchs: »Welch eine ideale Partnerschaft. Aber«, wandte er sich wieder an Olivia, »diese Schleiereulenaktion ist nicht speziell an Kent gebunden. Kein genius loci hat seine Hand dabei im Spiel. Ich meine, das Problem waren die Wühlmäuse und nicht eine sentimentale Hinwendung zur Landschaft von Kent.«

       »Das klingt ein wenig rüde, Roger!« protestierte Aphra. »Und man könnte zumindest darüber diskutieren, ob die Eulen deine Beziehung zum Land nicht doch beeinflussen. Man achtet plötzlich auf völlig neue Dinge, die nun mal mit dem Land zusammenhängen. Erinnerst du dich an das seltsame Mäusesterben vor zwei Jahren. Die Ursache blieb ungeklärt. Niemand raffte sich auf, ein paar Mäuse einzupacken und zu einem medizinischen Labor zu tragen. Ich auch nicht, zugegeben. Heute verstehe ich mich nicht mehr.« Ihr Blick traf direkt auf den von Olivia. Sie folgte deren stummer Aufforderung und erinnerte sich: »Man findet hin und wieder eine tote Maus irgendwo, von einer Katze zur Strecke gebracht und doch nicht aufgefressen. In jenem Sommer vor zwei Jahren häuften sich diese Entdeckungen, das ist alles. Ich fand immer wieder welche um die Kirche herum und in unserem Garten, Nachbarn, mit denen ich sprach, ebenfalls. Hier auf unserer Seite des Ortes, aber auch auf der anderen Seite der Hauptstraße, drüben bei den Farmen, Mr Wood fielen sie auf. Erinnerst du dich, Raymund? Die Farmer schüttelten drüben wie hier den Kopf, sie hatten nichts gesehen. Das war nur anders bei Mrs Melling, die auch mitten in den Weiden lebt mit ihren Eseln. Sie achtete einfach mehr auf Kleinigkeiten, nehme ich an. Es war auffällig, aber nicht so gravierend, dass es jemanden wirklich alarmiert hätte. Roger und ich begriffen das Ausmaß, als die Eulen oben im Turm nur die Hälfte ihrer Jungen aufzogen. Sie fangen lebende Mäuse und davon gab es zu wenige, die toten bemerken sie, glaube ich, gar nicht. Es gab auch keine zweite Brut im September, obwohl die Geschichte mit den Mäusen da vorbei war.«

       Der Pfarrer hatte inzwischen seine Zigarre angezündet und genehmigte sich einige ruhige Züge. »Das bedrückte mich damals tatsächlich«, gestand er endlich zu. »Aber ich fand heraus, dass die Zahl der Jungen ganz natürlich nicht nur vom Nahrungsangebot, sondern auch von der Entfernung zu den Hauptjagdgründen abhängt. Mit den Mäusen stimmte offenbar wirklich etwas nicht oder unsere Eulen entdeckten den Wohlgeschmack von Fröschen. Unten im Hexden-Tal gab es in jenem Sommer jedenfalls ein Überangebot davon, dem sie sich widmeten. Ich nahm ihr Gewölle auseinander, wissen Sie. Nun ist der Hexden fünf bis sechs Kilometer geschätzte Luftlinie entfernt, das bedeutet einen wesentlich größeren Energieverbrauch für die Tiere, also zogen sie weniger Junge groß und das auch nur einmal. Wenn das jüngste Eulenkind ein paar Tage alt ist, fliegt auch das Weibchen zur Jagd hinaus. So weit so gut. Bei einer zweiten Brautwerbung aber bliebe sie erneut daheim und das Schleiereulenmännchen würde nun wieder tote Mäuse oder eben Frösche zu ihr ins Nest bringen, um sie davon zu überzeugen, dass er stark genug ist, sie ein zweites Mal zu versorgen, und um ihr zu beweisen, dass das Angebot draußen in Ordnung ist. Der Jagderfolg ist damit nicht nur eine echte Herausforderung für das Aufziehen der Jungen, das ist klar, sondern im Fall der Schleiereulen auch für die Paarungsbereitschaft des Weibchens. Und so spielt die Entfernung zu den Hauptjagdgründen eine entscheidende Rolle – im nächsten Jahr war alles wieder in Ordnung, auch in diesem sieht es bisher gut aus.« Er klopfte sorgfältig die Asche seiner Zigarre in einen dicken gläsernen Aschenbecher. »Es gibt ja immer wieder Epidemien. Haben Sie von dem großen Geiersterben in Indien gehört? Nein? Es begann vor ungefähr zehn Jahren und vernichtete um die fünfundneunzig Prozent der drei dort lebenden Geierarten.«

       »Um Himmels willen!« Raymund richtete sich auf. »Und was geschieht seither mit den toten Tieren, die sie normalerweise aufräumen?«

       »Tja, schwierig. Einen Teil wenigstens übernehmen die Hunde, aber daraus erwächst eine neue Gefahr. Geier haben eine Magensäure, die alle Krankheitserreger vernichtet, Hunde nicht; sie leben aber im Gegensatz zu den Geiern bei den Menschen und ihre Ausscheidungen enthalten jetzt zusätzliche Krankheitserreger. Kurz und gut, es ist gefährlich; über die Maßnahmen der indischen Regierung in dieser Richtung habe ich leider nichts gelesen. Was ich weiß, ist, dass die Parsen, die traditionell in den sogenannten Türmen des Schweigens ihre Toten der Luft, recht eigentlich aber den Geiern überlassen, jetzt zur Feuerbestattung gezwungen sind. Das kommt einem kulturellen Erdbeben gleich.«

       »Hat man die Ursache dieser Apokalypse herausgefunden?« Olivia war für den Augenblick schockiert.

       »Gerade vor ein paar Monaten. Es handelt sich wohl um ein entzündungshemmendes Mittel aus der Humanmedizin, dass man seit den neunziger Jahren auch den Rindern zu verabreichen begann. Bei den Geiern, sie sind diejenigen, die die weißen Rinder fressen, ruft es eine Art Gicht hervor. Sie sitzen reglos auf ihren Ästen, die Köpfe zwischen den Krallen, als sei ihr Genick gebrochen und irgendwann fallen sie dann tot vom Baum. Letztendliche Todesursache ist Nierenversagen.«

       »Und wie geht man mit dieser Katastrophe jetzt um?«

       »Das Medikament wird nicht mehr für Rinder eingesetzt. Damit haben die letzten Geier eine Chance, zu überleben und sich wieder fortzupflanzen. Aber wie lange wird es dauern, bis sie wieder eine nennenswerte Zahl erreicht haben? Um die Vermehrung zu beschleunigen, richtet man Zuchtstationen für Geier ein. Das habe ich vor Kurzem gehört.«

       Im Moment fühlte Olivia die Leere einer großen Fassungslosigkeit in sich. Ihr Blick traf ihren Onkel. Der saß zurückgelehnt in der Tiefe seines Sessels und grinste sie an. Während sie ihn mit schmalen Augen musterte, vertiefte sich sein Grinsen noch, dabei blieben die Augen ernst. Die ihren wanderten weiter. Roger Mottram zog an seiner Zigarre. Aphra griff zur Teekanne und schenkte Olivia nach. Die nahm sich nachdenklich Milch, rührte um und nahm den Pfarrer fest in den Blick: »Sie haben sicher über die Todesfälle, die Sie ins Grübeln brachten, immer wieder nachgedacht. Dabei wird Ihnen hier und da etwas aufgefallen sein, das Sie stutzen ließ. Was davon fällt Ihnen jetzt ein?« fragte sie freundlich. Sie trank einen kleinen Schluck von dem sehr heißen Tee, stellte entgegen ihrer Gewohnheit die Tasse ab und wartete. Raymunds Grinsen war verschwunden.

       Unbeholfen legte der so direkt Angesprochene die halbgerauchte Zigarre beiseite und stemmte sich zu aufrechter Haltung hoch. »So auf Anhieb fällt mir gar nichts ein. Ich habe nur die Zahlen, diese beunruhigenden Zahlen, die auch Raymund beunruhigend fand. Aber sehen Sie, die Schwierigkeit beginnt schon damit, dass ein Teil, sagen wir die Hälfte dieser Todesfälle zumindest, sicher ganz normal zustande kam. Aber welche Hälfte? Ich weiß nicht mal das, wie sollte ich auch.« Er sah Olivia beklommen an: »Wenn wir einfach nur Ihre Zeit vergeuden, sagen Sie es ohne Scheu und wir begraben das Ganze.«

       »Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten«, schaltete Raymund sich entschlossen ein. »Unser Verdacht ist doch zu gravierend und mit dem Tod von Mrs Large haben wir einen konkreten Fall, der euch ganz speziell beunruhigt und an dem wir ansetzen können. Wir sollten diese Chance nutzen.«

       Der Pfarrer sah mit sichtlichem Unbehagen zu seiner Frau hinüber. »Raymund hat recht«, gab sie zu. »Delia starb zum falschen Zeitpunkt. Natürlich kann man auch aus übergroßer Freude sterben, aber ein solcher Gefühlsüberschwang lag ihr fern. Warum dann also in dieser entspannten Situation?« Sie sah zu Olivia hinüber: »Ich weiß darauf keine Antwort.«

       »Erzählen Sie mir von Mrs Large. Von deren Freunden hier am Ort oder woanders, von Verwandten. Welcher Art war ihr Umgang, besuchten sie sich, wie lange kannten sie sich, was für ein Leben führte sie…«

       Aphra rückte auf die Sesselkante vor, nahm ihre Teetasse auf und begann umzurühren. »Delia lebte über vierzig Jahre hier im Dorf, in jenem wunderschönen weißen kentischen Landhaus am Green. Sie führte eine gute Ehe, zu ihrem Leidwesen ohne Kinder, seit neun Jahren war sie Witwe. Sie hatte Jura studiert und für Amnesty International gearbeitet, das ging zu guten Teilen von zu

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