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täte sie bestimmt. Weißt du, manchmal scheint es mir, als wären wir uns dort besonders nahe. Es tut mir gut – inzwischen – ich bin gleich fertig hier«, ergänzte er mit Blick auf seine Hände, wieder munterer.

       Olivia ging zum Fenster und schaute auf den Green hinaus. Hier unten konnte sie unter den Linden hindurch Bänke am Rand des Green sehen und Leute. Allerdings hatte Ann Rosen vor das Küchenfenster gesetzt, die sich anschickten, mit ihren neuen Blättern den Blick zu durchkreuzen. »Ich glaube, dies ist der einzige Green in ganz England, der von Spalierbäumen umstanden ist.«

       Raymund nickte zustimmend: »Magst du Avocado lieber als Creme oder in Scheiben?«

       »Ich mag beides.«

       »Das ist gut! Dann gibt es sie heute als Creme mit Naan-Brot, das gibt es auch zum Curry. Und übermorgen Scheiben mit Peperoni bestreut und Tomaten – das Lindenspalier ist, so weit ich weiß, tatsächlich das einzige in England. Howlethurst hatte im neunzehnten Jahrhundert schon mal einen tatenlustigen Pfarrer. Der stellte im Laufe der Jahre fest – so will es jedenfalls die Geschichte – dass das Miteinander seiner Pfarrkinder um den Green herum weitaus streitlustiger und auch sonst schwieriger war als notwendig. Sie wussten einfach zu genau übereinander Bescheid. Er beschloss, den Blick aufeinander zuzupflanzen, gewann seine Gemeinde für diese ungewöhnliche Idee, indem er ein allgemeines Dorfverschönerungsprojekt ins Leben rief, und alle machten mit.«

       »Vom Küchenfenster hier unten sehe ich immer noch ganz gut.«

       »Über die freie Fläche, aber nicht in die anderen Häuser«, konterte Raymund.

       »Stimmt, die oberen Stockwerke sind verdeckt und unten haben fast alle relativ hohe Pflanzen stehen.«

       »Niemand lässt sich gerne allzu genau beobachten, aber niemand unternimmt gern als erster etwas dagegen. Dazu brauchte es den Pfarrer.«

       Olivia wandte sich wieder der Aussicht zu. Die Häuser waren sehr verschieden, verschieden groß und verschieden alt. »Wer wohnt in dem Haus gegenüber auf der anderen Rasenseite?«

       »Welches genau meinst du?« kam die Rückfrage vom Herd, der in der Mitte der Küche stand. Raymund werkelte daneben an der Vorspeise. »Das rote oder das weiße?«

       »Das rote mit den symmetrischen vorgebauten Erkern und dem säulenflankierten Hauseingang. Seine unteren Erkerfenster sind nicht zugepflanzt.«

       »Dort lebt Mrs Graham. Und der größte Teil des Erdgeschosses beherbergt die hiesige Leihbücherei. Tagsüber braucht sie die Fenster nicht zu schützen, weil sich das halbe Dorf ohnehin drinnen tummelt. Abends zieht sie dann schwere Portieren vor. Ich für meinen Teil glaube allerdings, dass sie im ersten Stock ein privates Wohnzimmer hat und nur mit Besuch das untere benutzt.«

       »Aha…« ein wenig ratlos wandte Olivia sich ihrem Onkel wieder zu.

       »Ich werde versuchen, zusammenzufassen. Mrs Graham ist heute um die sechzig Jahre alt und grauhaarig, doch Witwe ist sie schon seit dreißig Jahren, ungefähr. Sie hat einen Sohn, der im Internat von Marlborough erzogen wurde und nur die Ferien hier verbrachte. Die alte englische Geschichte: Die Frauen sind sehr früh die meiste Zeit allein.«

       »Erzähl mir jetzt aber bitte keine Biographie aus dem 19.Jahrhundert. Wer hinderte sie, ihr Haus zu verlassen und ihr Leben in die Hand zu nehmen?«

       »Weiß ich nicht. Ich kannte sie damals nicht und Ann auch nicht. Kurz und gut: Es war wieder der Pfarrer, Rogers Vorgänger, der anregte, in einem der vorderen Räume eine Leihbücherei einzurichten. Irgendeiner der umliegenden Landsitze, genauer ein neuer Besitzer, der die alten Bücher nicht wollte, hatte sie der Gemeinde als Geschenk angeboten. Es handelte sich um eine ziemlich umfassende Sammlung, die allerdings erst im 19.Jahrhundert begonnen worden war und enthielt, was die damaligen Besitzer selber lasen, will sagen, genau das Richtige für eine Leihbücherei und wenig geeignet, sie zu Geld zu machen. Das war der Anfang. Heute steht nur noch in der Wohnküche ein Esstisch und vor dem Wohnzimmerfenster zum Garten eine Sitzgruppe. Alles andere im Erdgeschoss ist Bücherei. Wie sie sich darin fühlt, weiß ich noch immer nicht. Zwar helfe ich jeden Donnerstagnachmittag, aber wir unterhalten uns nicht privat.«

       Raymund hatte unter dem Reden die Avocadocreme fertiggestellt. Er rührte das Curry noch einmal um und ging voraus zum Esstisch. Olivia folgte ihm mit einem Krug voll frischem Wasser, doch vorher zog sie die Küchenvorhänge zu. Er quittierte es mit einem leichten Lächeln um die Augen, während er die Kerzen auf dem Tisch anzündete. »Dir ist ungemütlich?«

       »Ich habe gern den Rücken frei. Noch sind die Rosen vor dem Fenster nicht grün.«

       »Nein, noch nicht. Wenn es so weit ist, sollte uns nicht mehr ungemütlich sein. Ich hoffe es wenigstens.« Während sie sich die Vorspeise schmecken ließen, überlegte Raymund weiter: »Ich mache auch meinerseits die bedauerliche Entdeckung, dass ich mich nicht so unbeteiligt fühle, wie ich es unter natürlichen Umständen täte, wenn ich dir von meinen Nachbarn erzähle.«

       »Was hat sich verändert?«

       »Bei allem, was ich dir erzähle, begleitet mich die Frage, ob ich irgendeinen Hinweis finde, der uns helfen könnte, Licht in Rogers Problem zu bringen.«

       »Auch bei Dr. Chalklin?«

       »Auch bei ihm. Er bringt die männliche Ausnahme hinzu, ist mir inzwischen gekommen, als Täter für einen gewaltfreien Tod auf der Basis genauer Kenntnisse. Das ist aber auch schon alles.« Er zögerte kurz, bevor er mit leichter Selbstironie bekannte: »Hoffentlich werden wir beiden nicht krank, bevor der Fall geklärt ist, sonst müssten wir nach London zu deinem Arzt fahren, fürchte ich.«

      Kapitel 4

      Der nächste Tag begann mit leichtem Nebel. Olivia saß an dem weißen Gartentisch in Anns Zimmer und übersetzte in Ruhe zehn Seiten des neuen Romans von Neville Seymour. Sie hielt ihn für einen der bedeutendsten unter den Gegenwartsautoren in England. In ihren Augen war er ein Dichter, ein Nachfahre von Virginia Woolf und Dylan Thomas. Sie hatte das Glück gehabt, ihn dank ihrer Freundin Amanda persönlich kennenzulernen. Grausigerweise waren sie alle am selben Abend als Gäste des Schriftstellers Keith Aulton in dessen unerwarteten Tod verwickelt worden. Ihre Beharrlichkeit und ihr Verständnis hatten diesen Todesfall schließlich aufgeklärt. Offenbar hatte Seymour sie nicht vergessen, denn ein Jahr später hatte sein Verlag bei ihr angefragt, ob sie die Übersetzung seines neuen Romans ins Deutsche übernehmen würde. Ihr hatte der Atem gestockt – und sie hatte angenommen, es war die bisher größte Herausforderung an ihr Können als Übersetzerin.

       Jetzt saß sie also in Anns Zimmer an dem alten Gartentisch an der Arbeit, die ihre Konzentration vollständig von der übrigen Welt abzog. Als sie ihr Tagespensum geschafft hatte, holte sie sich einen Apfel aus der Küche und machte sich an einen Artikel für den ›Guardian‹. Diese Übersetzung ging wesentlich zügiger von statten. Der Nebel hatte sich derweil verzogen, was zu dem zweifelsfreien Schluss führte, dass sie von ihrem Fenster aus so gut wie niemanden beobachten konnte. Das Lindenspalier war dagegen.

       Um halb zwölf stand sie vor der schwarzen Haustür. Sie trug ein Herrenhemd in dunklem Lila, doch dazu nicht ihr übliche schmale Hose, sondern eine weite mit großen Blüten aus Wangaris Afrikaladen. In den Blüten war auch lila. Ins Haar hatte sie ein lila Band geschlungen und einen bunten Schal um die Taille. Sie fühlte sich in dieser Aufmachung fremd genug, um als eine andere Nichte von Raymund Fisher los zu spazieren.

       Der Green war menschenleer. An seinem Nordrand, die Hauptstraße entlang, radelte eine Frau in einem wehenden Blumenrock. Olivia zupfte ein paar alte Blätter aus den Pflanzen vor dem Wohnzimmerfenster und schlenderte dann um die Spitze des Platzes herum, an der Kirchhofsmauer entlang und weiter zu Mrs Grahams Haus. Davor blieb sie stehen und schaute durch das eine Erkerfenster hinein: Bücherregale, hoch und dunkelbraun, nah beieinander und sehr voll. Kein Mensch war drinnen zu sehen, auch hinter dem anderen Fenster nicht. An der Haustür konnte sie die Öffnungszeiten feststellen: von zwei bis sieben Uhr nachmittags jeden Tag außer Sonntag, das war großzügig für einen so kleinen Ort. Langsam ging sie weiter, prägte sich die Namen auf den Türschildern ein und hielt immer wieder inne, um über den Rasen zu schauen. An der Hauptstraße, die eigentlich eher eine Landstraße war, die durch einen Ort

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