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von Gottes Gnaden, die Kommandozentrale von Preußen-Deutschland. Preußen hat sich groß gehungert. Fürchterliche Wahrheit - für die Kleinen. Und die Herrschenden haben dazu das Ihre geleistet. Intrigen, Rankünen, falsches Spiel mit Freund und Feind - diese Tradition geht zurück bis vor den sogenannten Großen Friedrich, der sie zur Virtuosität entwickelte. Der Eiserne Kanzler polierte diese Tradition glänzend auf. Der wusste zu jonglieren mit verstümmelten Telegrammen, drohenden Demarchen, mit lancierten Nachrichten, lauten Halbwahrheiten und leiser Korrumpierung, mit roher Kriegsgewalt nach außen, brutaler Unterdrückung nach innen. Noch heute, im Jahre zwölf, spürt man allenthalben die Spuren dieser Politik. Liebknecht schüttelte sich, unangenehme Jahreszeit. Trotzdem wird kommenden Sonntag gewandert. Und sei es wenigstens bis zum Botanischen nach Dahlem. Ich muss mir den Tag freihalten - zumindest den Vormittag. Die Kinder dürfen keine blässlichen Stubenhocker werden. Gehören unsere Familienausflüge mit Vaters Hinweisen und Erklärungen über Flora und Fauna nicht zu meinen schönsten Erinnerungen?

      "Wenn man so überlegt", setzte Dillack sein Selbstgespräch fort, "wie mühsam et is, wenichstens den Jeneppten det Stillehalten abzujewöhnen. Ick verjesse nich, wie schon Ihr Vater jejen die Flottenvorlage im Reichstag losjelegt hat. Et muss so um die Jahrhundertwende jewesen sin, aber einijes von dem, wat einem so richtich zu Herzen jeht, behält man manchmal uffs Wort. Wir wissen wohl, hat er denen jejeigt, welche Ziele die Flottenvorlage hat: die Stärkung des Militarismus und des Kapitalismus. Mehrmals hat ihm der Reichstagspräsident dazwischenjebimmelt. Und wir haben uns eens jejeckt, als unser Willem daruff im Vorwärts schrieb: Im Deutschen Reichstag kann man die Wahrheit nicht sagen, ohne zur Ordnung gerufen zu werden."

      Liebknecht fröstelte es nicht mehr. Selbstverständlich war ihm die Episode bekannt. Des Vaters letzte Reichstagsrede, kurz vor seinem Tode. Längst hatte das unselige Flottenprogramm Gestalt angenommen, und Seiner Majestät Kriegsschiffe bedrohten den Frieden der Welt. Um so energischer müssen wir gegen die weitere Rüstung angehen. Gewiss, meine Rede in Budapest gegen den Balkankrieg diente auch dieser Aufgabe, aber das ist alles zu wenig.

      Seine Gedanken schweiften wieder zurück in die Vergangenheit. Die unbekümmertsten Berliner Jahre waren die des Studiums an der Universität. In den folgenden Jahren, als Referendar in Arnsberg und Paderborn, wäre ich ohne emsiges Büffeln im Kleinstadtmief erstickt. Dort empfand ich Berlin zum ersten Mal als Heimat. Das Jahr neunzehnhundert trug ein Janusgesicht. Glücklicher Maitag: die Heirat mit Julia, von allen Liebknechtsöhnen umschwärmte und verehrte Tochter der Freundesfamilie Paradies. Etwas später mein Eintritt in den Sozialdemokratischen Wahlverein für den ersten Berliner Reichstagswahlkreis. Am siebenten August das Unfassbare, das, womit jeder Mensch rechnen muss und es doch nicht wahrhaben will. Der Vater ging von uns nach vierundsiebzig Jahren tatenreichen Lebens voller Niederlagen und Siege, voller Not, Entbehrungen, Erfolge; in jungen Jahren umhergetrieben in halb Europa, später bekannt in der ganzen Welt, Freund von Marx und Engels, Parteigründer mit Bebel. Die Hauptstadt erlebte noch kein solches Begräbnis. Wie hatte es doch Bebel kommentiert? Wilhelm Liebknecht wurde, wie nie zuvor ein Mensch in Deutschland, weder Fürst, Staatsmann noch Bürger, zur letzten Ruhe geleitet. Vierhunderttausend Berliner Arbeiter demonstrierten ihre Trauer. Auch das ist Berlin: die Zentrale der deutschen Arbeiterbewegung, jener organisierten Kraft, die man nicht zu unrecht als die führende in der sozialistischen Weltbewegung bezeichnet.

      Kaum einer hat es besser ausgedrückt als Engels bei seinem Besuch Berlins im September 93, der sein letzter sein sollte: Heute könnten Hof, Adel, Garnison und Beamte sich einen andern Wohnort suchen, und Berlin bliebe doch Berlin. Die Berliner Sozialdemokratie ist aufmarschiert mit fast 160.000 Stimmen. In dieser Beziehung steht Berlin an der Spitze aller europäischen Großstädte und hat selbst Paris weit überflügelt.

      Die Tätigkeit als Stadtverordneter ab neunzehnhundertzwei hat mich trotz manchen Ärgers noch fester mit der Stadt verbunden. Die Eröffnung der Anwaltspraxis, gemeinsam mit Bruder Theodor, verschaffte mir eine gewisse Unabhängigkeit. Denn nie möchte ich von der Idee leben, sondern immer nur für sie. Auch Bebel hat fast ein Leben lang die Drechslerwerkstatt aufrechterhalten. Unter dem Sozialistengesetz ein harmloses Aushängeschild für illegale Reisen und Agitation. Aber auch notwendiger Rückhalt bei der Einhaltung unabdingbarer Prinzipien. Außerdem, wo könnte ich die besser vertreten als in der Verteidigung von Arbeitern vor dem Klassengericht?

      In der Partei hat man es mir nie leicht gemacht. Im schwierigsten Territorium, dem sogenannten Kaiserwahlkreis Potsdam-Spandau-Osthavelland, sollte mein Reichstagssitz gewonnen werden. Fast hätten wir es im Juni neunzehnhundertdrei geschafft. Zweihundertdreizehn Stimmen mehr, und der konservative Gegenkandidat Pauli wäre in der Stichwahl geschlagen worden. Neunzehnhundertsieben schlug mich Pauli abermals. Aber wer verlorene Gefechte nicht ertragen kann, wird die Klassenschlacht nicht gewinnen. Es waren Pyrrhussiege der Konservativen. Im Januar dieses Jahres zahlte sich unsere Beharrlichkeit aus. Fast viertausend Stimmen mehr für mich als für den Reaktionär Voßberg.

      Wie ist das, sinnierte Liebknecht, hemmen Schicksalsschläge den politischen Elan? Es kommt wohl auf den Charakter an. Für mich war es das Beste, dass mir die drängenden Anforderungen wenig Zeit ließen, mich in meinen Schmerz zu verlieren. Ich konnte die Todesnachricht aus Bad Ems, wo Julia zur Kur weilte, zuerst nicht fassen. Hätte nicht gerade sie mit ihrer Aufopferungsbereitschaft, mit ihrer Güte und den vielen Herzensgaben ein langes Leben verdient gehabt? Ich mag nicht daran denken, wie noch heute alles aussehen würde, gäbe es nicht Sophie. Die Heirat mit ihr, fünf Vierteljahre nach dem Tode Julias, war nicht nur diktiert von der Notwendigkeit, den Kindern wieder eine Mutter zu geben. Ohne Sophie wäre die Welt trüber. Sie entschied sich ohne Wenn und Aber, ich werde es ihr nie vergessen.

      Bald darauf hielt die Droschke. Liebknecht brachte einige Stücke Zucker zutage, die er auswickelte. Ließ er sie in einem Restaurant in seiner Tasche verschwinden, entschuldigte er sich vor den fragenden Blicken der Bekannten: "Zucker fürs Pferd." Er ging zu dem Braunen, hielt ihm auf der flachen Hand die weißen Würfel hin. Behutsam wurden sie von den weichen Lippen aufgenommen, Aujust schnaubte dankbar.

      Dillack hob den Koffer aus dem Fond. "Wat meinse, Dokter, wie der jetzt lospeest, wenn et heißt nach Hause."

      "Nicht viel anders als ich, Genosse Dillack." Liebknecht ging schnellfüßig voraus. Die Müdigkeit war von der Freude aufs Heimkommen weggeblasen. Im zweiten Stockwerk hob er den Klingelgriff unter dem Türschild. Als er die Tür aufgehen sah und in das vertraute Gesicht blickte, überkam ihn wieder der Gedanke: Gäbe es sie nicht, wäre alles viel schwerer. Er hielt Sophies Gesicht in beiden Händen und küsste sie auf die Stirn.

      Sie versuchte vorwurfsvoll zu tun: "Kein Brief - vor zwei Tagen nur ein Telegramm."

      Dillack hatte den Koffer auf der Diele abgesetzt und räusperte sich. "So, det wärt denn woll."

      Liebknecht fand aus seiner Versunkenheit und fragte nach dem Fahrpreis. Dillack verabschiedete sich schmunzelnd: "Schön juten Ahmd, Frau Dokter, und sanften Schlummer in Morfeus' Armen, Dokter!"

      Leise schloss Liebknecht die Tür hinter Dillack. Ein fragender Blick zu Sophie. "Die Kinder?"

      Sie machte eine beschwichtigende Gebärde, flüsterte, sie habe gesagt, Papa werde wohl erst morgen kommen. Behutsam öffnete er die Tür des Kinderzimmers. Der Schein des Dielenlichts fiel auf das Bett Veras, der Jüngsten nach den beiden Söhnen Helmut und Robert. Aufatmend fragte er sich, gibt es einen friedlicheren Anblick als ein vom Schlaf gerötetes Kindergesicht?

      Während ihm Sophie beim Ablegen des Paletots und des Jacketts half, versuchte sie ihn mit Fragen nach seinen Budapester Erlebnissen abzulenken. Sie hatte den Blick durch die geöffnete Tür des Arbeitszimmers zum Schreibtisch gesehen. Wie immer nach Tagen der Abwesenheit türmten sich dort Berge von Post. Er antwortete zerstreut. Briefe, Zeitschriften, Kreuzbandpäckchen, alles sichtbare Zeichen der Kommunikation mit der Umwelt, übten magische Gewalt auf ihn aus.

      Ob sie Badewasser einlassen solle, fragte Sophie. Später, bat er, wusch sich schnell die Hände und saß dann vor dem Schreibtisch, begann die Post zu sortieren.

      An der Tür wiegte Sophie nachsichtig den Kopf, spöttelte, ihres Wissens habe am ersten Oktober dieses Jahres die Heirat stattgefunden zwischen einem Doktor jur. Liebknecht und einer gewissen Doktor phil.

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