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Der anonyme Brief. E.R. Greulich
Читать онлайн.Название Der anonyme Brief
Год выпуска 0
isbn 9783847613282
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
E.R. Greulich
Der anonyme Brief
Ein Roman um Karl Liebknecht
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
6 Deutsche Geschichte - einmal anders
7 Illegale Fortsetzung - ganz legal
10 Begegnung mit lebendiger Vergangenheit
11 In London ist nicht nur Nebel
12 Preußischer Schnürleib - und eine Libellentaille
13 Singen mit geschlossenem Mund?
14 Was wäre ein Mensch ohne Freunde
17 Wann Geheimnisse keine Geheimnisse sind
2I Ein Wahlsieg darf kein Pyrrhussieg sein
23 Wermut in der Urlaubsfreude
24 Verpflichtung ohne Stempel und Siegel
Zitat
Nur das Leben ist unmöglich, das alles laufen lassen wollte, wie es läuft. Nur das ist möglich, das sich selbst zu opfern bereit ist, zu opfern für die Allgemeinheit.
Karl Liebknecht an seinen ältesten Sohn Helmut
1 Licht im Novembernebel
Der gut mittelgroße Mann ließ die Geräusche der Bahnhofshalle hinter sich, am Portal verharrte er, schaute suchend hinunter zum Droschkenhalteplatz. Sein Gesicht mit der hohen Stirn und den dunklen Augen wurde von einem breitrandigen Hut überschattet. Obwohl müde von der Reise, waren seine Bewegungen bestimmt, und das durchgeistigte, ein wenig asketenhafte Gesicht vergaß kaum jemand, der es einmal gesehen hatte.
Berlin empfing ihn am Abend des 19. November 1912 mit Nebel. Die Lichter der Gaslaternen warfen matte Reflexe auf das feuchte Pflaster.
"Paule - Paul, der Dokter kommt!"
Karl Liebknecht hörte den Ruf, lächelte und stieg die Stufen hinunter. Der Droschkenkutscher kam ihm entgegen und nahm den Koffer. Freundlich, ein wenig abwesend, erwiderte Liebknecht das Willkommen, lauschte dem wohlvertrauten Dialekt des älteren Berliners. Paul Dillack gehörte zu den wenigen Droschkenkutschern, die in den Reihen der Partei standen.
Dillack wand die Zügelleine von der Bremse und ermunterte den Wallach mit einem Schnalzlaut. "Nu los, Aujust, aber 'n bißken dalli, der Dokter wird müde und janz schön hungrich sein."
Während sie im eintönigen Rhythmus der Hufschläge dahinzockelten, plauderte Dillack, gab sich, die Abgespanntheit des Fahrgastes begreifend, selbst die Antworten. "Wieder 'ne feine Rede jewesen, Dokter. Ick hab die Auszüje heute im Vorwärts jelesen. - ... und die Krüppel werden verjeblich um Brot und Arbeit rufen, sie werden einen Leierkasten bekommen ... Also wenn Worte töten könnten, die Kriegsmacher wärn längst erledigt. Bloß, det Jesindel hört ja nich. Sowat lässt nich vom profitablen Jeschäft, wenn wir nich dazwischenfahren. Aber et is schon jut, wenn erst mal alle Kleenen hinhörn."
Dialekt oder Großstadtjargon? Kann eine Großstadt Heimat sein? Liebknechts Gedankenfluss verharrte. Ist sie dort, wo man geboren wird? Als Vater die Chefredaktion des Vorwärts übernommen hatte, sind wir endlich sesshaft geworden. Nun waren wir nicht mehr gejagt und vertrieben, nun wurde Berlin im Herbst 1890 unsere zweite, wirkliche Heimat.
"Ich hoffe ja ooch", meditierte Dillack auf dem Kutschbock, "die Kommißköppe werden sich überlejen, ob sie aus dem Balkankrieg 'nen Europakrieg machen. Det hättense sich nich träumen lassen, wie die Arbeeter überall mobil werden. Also hier in Berlin, Dokter, et war 'ne Wucht. So nervös hab ick die Blauen selten jesehn. Der Saal hätte zehnmal so groß sein können. Der Jaures hat keen Blatt vor den Mund jenommen. So 'n richtijer Feuerkopp. Kann man sich kaum vorstellen, det der Professer is. Und det Dollste, sie wollten ihm den Mund verbieten. In einer deutschen Veranstaltung dürfe nich französisch jesprochen werden. Wat macht er? Spricht einfach deutsch. Den Jubel könnse sich nich vorstelln. Am liebsten hätten wir ihn zum Schluss uff Händen aus dem Saal jetragen. Ein Glück, dass et überall so feine Kerle jibt."
Liebknecht war dankbar für den Bericht aus erster Hand über den Verlauf der Kundgebung in Berlin. "Die feinen Kerle werden immer mehr in der Welt, Genosse Dillack."
"Det is wahr." Mit neuerlichem Schnalzlaut schreckte Dillack den Wallach aus seinem schläfrigen Trott.
Liebknecht fröstelte, er drückte sich in die Ecke des Sitzes und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Wasserkopf Berlin - welch simple Metapher