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welche in mir zu den beiden aufstiegen, waren geradezu gruselig. Angewidert wandte ich mich kopfschüttelnd ab. Das unzüchtige Beisammensein der beiden erinnerte mich noch deutlicher daran, wie allein ich nach dem Tod meines Vaters eigentlich in der Welt war. Nur eine bestimmte Person konnte mir die Einsamkeit nehmen. Wie gut, dass ich verliebt war. Ein Seufzer entrang sich mir. Schmerzen der Liebe krampften mein junges Herz zusammen.

      Komischerweise dachte ich plötzlich wieder an Grace. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen? Sie war klug, sah gut aus und hatte das Herz am rechten Fleck. Nein, ich durfte keinen Kompromiss machen. Das wäre ein Verrat, ja ein Betrug an der wahren Liebe.

      Seltener Besuch

      Mama hielt meine gegenwärtige Beschäftigung für nutzlose Zeitverschwendung, für eine Art Krankheit. Aus Sicht meiner Mutter wurde es Zeit, eine geeignete Braut zu finden. Deshalb förderte sie die Besuche von Grace. Diese waren aus ihrer Sicht so etwas wie Therapie.

      Sie ahnte ja nichts davon, dass ich schon längst verliebt war und nur an Liebeskummer litt. Ich hatte mich bis über beide Ohren in eine Unbekannte verliebt.

      Aus Vorsicht erzählte ich niemandem im Hause von meiner außergewöhnlichen Liebe. Man sah ja bei Grace, wozu die Wahrheit führte. So litt ich weiter allein. Mein junges Herz schmachtete. Unruhe und Sehnsucht bestimmten seitdem mein Gemüt. Wie konnte man sich auch in eine Unbekannte verlieben, selbst wenn sie die Vollkommene war?

      Wer war sie nur und wo konnte ich sie finden? Wir waren Seelenverwandte und füreinander geschaffen. Das stand fest.

      Mama befürchtete inzwischen sogar, dass ein merkwürdiges Fieber mich heimgesucht hatte und vielleicht meinen Verstand beeinträchtigte.

      Entschlossen, mich von niemandem aufhalten zu lassen, arbeite ich Stunde um Stunde und Tag für Tag. Ich bemerkte nicht, wie die Zeit verging und verlor jegliches Maß für sie.

      Es klopfte.

      „Was ist?“, rief ich ungehalten vom übergroßen Schreibtisch aus. Zwischen den bekritzelten Papierbergen war seine dunkle Mahagoniplatte nur noch zu erahnen.

      Die Tür öffnete sich. Unser guter alter Hausdiener, der sein Gesicht mit überlangen, gekräuselte Koteletten verzierte, erschien in seiner blauen Uniform. Der inzwischen unmoderne krause Backenbart war scheinbar frisch gestutzt. Er hatte noch ein wenig Seifenschaum im Gesicht. Hingegen war seine Kleidung durch die vielen Dienstjahre an Knien und Ellbogen so abgeschabt, dass man seine gelbliche Haut hindurch schimmern sah. Er weigerte sich jedoch eine neue Uniform zu tragen. Zu sehr war ihm die alte ins Herz gewachsen. Da half kein Schimpfen oder Drohen. In der linken Hand balancierte er ein silbernes Tablett, auf dem Gläser und Schalen im russischen Stil standen.

      „Guten Tag, Percy! Wie wäre es mit einem belegten Butterbrot, Schinken, Käse und einem Kännchen Tee mit Honig?“ Da der Hausdiener meine Wenigkeit von klein auf kannte, redete er mich als einziger vom Gesinde noch mit dem Vornamen an. Ich gestattete ihm dies, da er für mich fast zu einem Vaterersatz geworden war.

      Der Geruch der Speisen wehte mir durch den Raum entgegen. Der Kamin knisterte und verbreitete Gemütlichkeit. Normalerweise hatte ich einen gesunden Appetit. Doch ich winkte ihm mit der Hand eine abweisende Geste zu. Er sollte verschwinden, denn ich war zu beschäftigt.

      „Nimm das Zeug ruhig wieder mit. Du darfst alles selbst essen.“

      Verblüfft starrte der treue Diener mich an. Sein Mund stand offen, als hätte er einen Geist gesehen. Er sah traurig aus. Kopfschüttelnd schloss der Bedienstete die Tür. Sein kahler Schädel verschwand zwischen den Flügeln.

      Er tat mir leid, aber wie konnte der gute alte Tropf, der sicherlich niemals in seinem ganzen Leben verliebt gewesen war, mein grandioses Vorhaben und meine Gefühle verstehen?

      Eine Unterbrechung meiner Herzensaufgabe mit Schlaf, Essen und Toilette kostete nur wertvolle Zeit. Selbst die Haare waren mir inzwischen lang gewachsen und der erste dünne Bartflaum machte sich auf den Wangen breit. Ich vermied jede Zeitverschwendung, da der Durchbruch nahe war.

      Alle Wände meines imposanten Zimmers waren mit Schmierblättern tapeziert. Ein ordnungsverliebter Bürokrat würde den Kopf schütteln und die Ansammlung für Chaos halten. Für mich war es aber keins. Auch auf dem Boden häuften sich kniehohe Papierberge und die alten Möbel erstickten unter den mathematischen Dekorationen.

      Doch immer tauchten neue Probleme auf. Meine wahre Liebste entfloh mir wie ein Schneehase. Immer wieder schlüpfte sie durch die Löcher meiner Zahlennetze und das hübsche Gesicht von Grace tauchte statt dessen auf. Ich sah vertraute Bilder, in denen wir vertraut beieinander saßen.

      Nur wenige Minuten später klopfte es erneut.

      Ein wenig Blut stieg mir vor Ärger zu Kopf. Genau diese Störungen waren es, die meinen Gedankenfluss und die mühsam geknöpften logischen Ketten unterbrachen. Man konnte wahnsinnig werden.

      Abermals trat unser Diener ein.

      „Kein Essen bitte!“, rief ich ungehalten, ehe er den Mund öffnen konnte. Trotzdem versuchte ich äußerlich die Beherrschung zu behalten. Streit und Auseinandersetzungen lenkten mich von meiner Aufgabe ab. Alles musste sich dem neuesten Ziel unterordnen, wirklich alles. Selbst der Weltuntergang musste warten.

      „Der Sekretär des Finanzministers bittet um Einlass. Er fragt nach, ob das Lottosystem fertig ist“, rechtfertigte der gute Alte sein nochmaliges Erscheinen. Was sollte der arme Kerl auch tun?

      Diese Lottosache also… Zum Glück hatte ich den Kleinkram schon erledigt, bevor mich Amors Pfeil getroffen hatte. Meine Hand zitterte für einen kurzen Moment vom inneren Ringen. Im Augenblick wollte ich eigentlich nicht einmal den Präsidenten selbst empfangen. Aber ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen. Hoffentlich wirkte es echt genug.

      „Er soll eintreten“, entgegnete ich bemüht höflich, „auch wenn ich nur wenig Zeit habe …“ Den Nachtrag murrten meine Lippen so leise, dass es niemand außer mir hören konnte.

      Unter einem Berg bekritzelter Blätter suchte ich nach dem Ordner und fand ihn. Welch ein Glück war das! So hatte ich wenigstens etwas Zeit gewonnen.

      Der uniformierte und mit vielen klappernden Orden behängte Mann trat ein und warf einen Seitenblick auf die Unordnung. Er erwähnte sie jedoch nicht. Bei Wissenschaftlern sah es nun einmal anders als bei normalen Menschen aus. Man musste kein Hellseher sein, um diesen Gedanken zu erraten.

      „Ich suche Mr. Percy Racliff, den Mathematiker“, erklärte er.

      Unser Diener schmunzelte in seine gestutzten Koteletten hinein. Er war an solche Verwechslungen gewohnt.

      „Ich bin der, den Sie suchen“, klärte ich den Besucher auf. „Nennen Sie mich einfach Percy!“

      Meine Jugend verschlug dem Gesandten die Worte.

      „Das System ist fertiggestellt“, füllte ich die sprachlose Lücke. „Es garantiert die gewünschte Gewinnquote und ist von einfachster Art, sodass selbst Dummköpfe es verstehen müssten.“ Ich drückte ihm die dreißig Blätter voller Zahlenmyriaden in die Hand und hoffte, dass er jetzt in einer perfekten Gerade zum Ausgang marschierte.

      Doch der Mann begann in aller Seelenruhe die Unterlagen zu prüfen. Dazu setzte er sich wie selbstverständlich in einen Sessel.

      Ich unterdrückte einen Fluch. Sein Beamtenhintern zerknitterte die darauf liegenden Papiere, was ihm jedoch völlig egal war.

      Währenddessen trippelte unser Butler von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, ob er sich entfernen sollte. Da ich seine Entlassung vergessen hatte und er sich nicht nachzufragen traute, blieb er unruhig an seinem Platz stehen.

      Ich zuckte mit den Schultern, überließ jeden sich selbst und huschte ungeduldig an meinen Arbeitsplatz zurück. Bald vergaß ich den Diener und den stummen Besucher ebenso. Im Nu war ich in eine neuerliche Berechnung vertieft. Einige Zeit verging auf diese Weise, ohne dass ich es eigentlich zur Kenntnis nahm. Wieder öffnete

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