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wich aber nicht von der Stelle. Mehr zu ihrer eigenen Beruhigung als zu seiner begann Erdree, die Mähne des Braunen zu kraulen. Nicht einmal dieses brave Tier konnte ihre Angst bändigen. Kein Glasbrecher war jemals auf einem Pferd gesessen! Sicher gab es in Mooresruh kein Pferd, weil die schlechte Gesundheit der Glasbrecher es ihnen nicht erlaubte, zu reiten! Denn eigentlich hätten die Bewohner von Mooresruh ein Pferd gut brauchen können. Der Transport des Torfs und des Grünfutters für die Kühe wäre mit einem Pferd um vieles einfacher gewesen. Also waren die Glasbrecher wohl zu schwach, um sich lange genug in einem Sattel halten zu können.

      „Steig schon einmal auf,“ vernahm Erdree Wiralins Stimme wie durch ein Rauschen. „Ich stelle dir dann die Steigbügel auf die richtige Länge ein.“

      Er konnte nicht ernsthaft von ihr verlangen, zu reiten! Erdree hob den Kopf und sah Wiralin flehentlich an. Sie begegnete einem beinahe nüchternen Blick, der sich jedoch sofort verhärtete. Zitternd schlug Erdree die Augen nieder. Anscheinend würde sie dieser neuen Prüfung nicht entkommen. Es schien ewig zu dauern, bis es ihr gelang, ihren klobigen Stiefel unter dem Mantel hervor und in den Steigbügel zu manövrieren. Sie zog sich mit aller Kraft hoch. Erst beim zweiten Versuch verwickelte sie sich nicht in ihren Mantel und konnte ihr rechtes Bein über den Pferderücken bringen. Oben kam es ihr vor, als ob der Braune schlagartig um mehrere Ellen gewachsen wäre. Die Höhe war schwindelerregend. Viel zu schnell hatte Wiralin ihre Steigbügel eingestellt und ihren Mantel geordnet. Er griff nach den Zügeln des Braunen und schwang sich auf die Grauschimmelstute.

      Bevor er die Pferde zum Tor von Glynwerk lenkte, sagte er nur noch: „Halt dich am Sattelknauf fest, leg die Knie an, und pass dich den Bewegungen des Pferdes an!“

      Wiralin rannte beinahe durch die Festung. Trotzdem konnte er dem Widerwillen nicht entkommen, der sein ständiger Begleiter geworden war. Nicht einmal auf dem Ausritt hatte er sich abschütteln lassen! Dabei war der Anfang durchaus vielversprechend gewesen: Ganz gegen seine Erwartung hatte die Glasbrecherin sich nicht vor den Pferden gefürchtet – obwohl sie sich sonst vor allem und jedem fürchtete. Warum sie trotzdem die ganze Zeit dreingeblickt hatte wie unter der schlimmsten Folter, war ihm schleierhaft. Sie waren auf ebenen Wegen geblieben und nicht etwa im wilden Galopp durch den Wald gejagt. Allein der Anblick des verschneiten Glynwalds musste doch lohnend für die Glasbrecherin sein – nach einem Leben mit öder Sumpflandschaft vor Augen! Vielleicht waren die Glasbrecher nicht nur schwächlich, sondern außerdem nicht ganz richtig im Kopf.

      Vor dem Speiseraum der Obersten nahm Wiralin sich mühsam zusammen. Bei Ulantes Anblick besserte seine Laune sich ein wenig. Leider saß die Generalin bereits vor leeren Tellern. Ipentar und Oredion waren erst bei der Suppe.

      Der Arzt hob alarmiert den Kopf. „Wo ist Erdree? Sie sollte sich nicht verspäten – die Essenszeit ist bald zu Ende.“

      „Sie kennt die Essenszeiten,“ gab Wiralin kühl zurück. „Wenn sie nicht hier ist, hat sie vermutlich beschlossen, nicht zum Abendessen zu kommen.“

      Oredion presste die Lippen zusammen. Dann gab er sich einen Ruck. „Erdree muss essen. Sie ist viel zu mager.“ Die Mahnung in seinem Ton war unverkennbar.

      Herausfordernd funkelte Wiralin Oredion über den Tisch hinweg an. „Verlangst du von mir, dass ich sie in den Speiseraum schleppe und ihr wie einer Gans das Essen den Rachen hinunterstopfe?“

      Ein unterdrücktes Seufzen leitete Oredions bedächtige Antwort ein: „Ich denke, dass man zumindest vor dir verlangen könnte, dich zu erkundigen, ob Erdree zum Abendessen mitkommt. Und falls sie nicht mitkommt, solltest du fragen, ob es ihr gut geht.“

      „Sie hat eine grauenvolle Stimme, aber sie ist nicht stumm. Wenn es ihr nicht gut geht, kann sie es sagen. Solange sie schweigt, gehe ich davon aus, dass alles in Ordnung ist.“

      Oredion runzelte die Stirn. „Ich bin nicht sicher, ob du es dir damit nicht zu einfach machst.“

      Wiralin schnaubte verächtlich. „Dann richte dich doch nach mir: Ich bin sicher, dass ich es mir nicht einfach mache. Es ist einfach!“

      „Du bist für Erdree verantwortlich!“ Oredion heischte mit einem Seitenblick auf die Generalin um Unterstützung. „Und sie ist eben kein Soldat, für sie muss ein anderer Maßstab gelten!“

      „Der Maßstab für Geisteskranke ohne eine Spur gesunden Menschenverstand?“ Wiralin blickte zynisch über den Rand der Suppenschale, die ein Kadett des Generalstabs gerade vor ihm abgestellt hatte.

      „Ach – du willst einfach nicht verstehen, dass die Welt für eine Glasbrecherin völlig anders aussieht! Wenn du wirklich Verantwortungsgefühl in dir hättest, würdest du in dein Quartier gehen und nach Erdree sehen!“ Oredions Stimme zitterte leicht.

      Wiralin schüttelte den Kopf. „Du glaubst, dass es ihr nicht gut geht, und du bist der Arzt. Also ist es deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern.“

      Röte stieg in Oredions Wangen. „Ich bin der Oberarzt des Heers – des gesamten Heers. Du bist ausschließlich für Erdrees Wohlergehen verantwortlich. Also ist es deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern!“

      „Ich bin dafür verantwortlich, dass ihr nichts geschieht. Ob sie essen will oder nicht ist allein ihre Sache.“

      Der Bogenschütze und der Arzt versanken in einem feindseligen Blickwechsel. Zuletzt ließ Oredion ihn abbrechen, um seine Augen erneut auf die Generalin zu richten – diesmal direkt. Auch Wiralin sah daraufhin zu Ulante hinüber. Sie säuberte scheinbar unbeteiligt ihre Nägel mit einem kleinen Messer. Als das Schweigen andauerte, hob sie kurz den Kopf. Ebenso knapp war die Bewegung, mit der sie zur Tür deutete:

      „Oredion–“

      Während der Arzt mit starrer Miene den Raum verließ, wandte Wiralin sich voller Genugtuung seiner Mahlzeit zu. Gut zu wissen, dass Ulante sich nach wie vor auf seine Seite stellte – sogar wenn es um die Glasbrecherin ging.

      Eng zusammengerollt lag Erdree auf ihrem schmalen Bett. Das Gewicht des Pelzmantels lastete immer noch auf ihr. Nur die Stiefel hatte sie von ihren Füßen gezerrt nachdem sie in ihre Kammer getaumelt war. Der Ausritt war ein einziger langer Alptraum gewesen. Ständig hatte sie gefürchtet, dass ihre Finger vom Sattelknauf abrutschen würden. Jedes Mal, wenn ihre Knie für einen Augenblick vom Pferdekörper weggeschleudert worden waren, hatte sie einen neuen Gipfel der Panik erlebt. Ihr jetziger Zustand bewies, dass Glasbrecher tatsächlich nicht reiten durften – schon gar nicht im Winter. Trotz des Pelzmantels waren ihre Hände und Füße eisig kalt und steif. Ihr Magen zog sich unter heftigen Krämpfen zusammen. Jeder einzelne Muskel an ihrem Körper schmerzte.

      Die Tür zu ihrer Kammer ging auf. Verzweifelt rollte Erdree sich noch fester zusammen. Als sie im Hof vom Pferd gerutscht war, hatte Wiralin sie angesehen wie ein Stück Abfall. Musste er sie noch weiter quälen? Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Um ein Stück Abfall würde er sich doch auch nicht kümmern...

      „Erdree?“

      Sie horchte auf. Das war nicht Wiralins kühle Stimme gewesen. Trotzdem hätte Erdree sich am liebsten tot gestellt. Musste Oredion nicht langsam einsehen, dass er vergeblich um ihre Gesundheit kämpfte? Doch solange er sich um sie bemühte, schuldete sie es ihm, eine brave Patientin zu sein. Mit größter Überwindung rappelte Erdree sich in eine sitzende Haltung auf.

      Oredion betrachtete sie besorgt. „Du siehst nicht gut aus. Hast du Fieber oder Schmerzen?“ Er stellte seine Kerze auf dem Nachttisch ab und legte Erdree eine Hand auf die Stirn.

      „Ich habe Magenkrämpfe,“ wisperte Erdree. „Und Schmerzen in den Armen und in den Beinen. Und im Rücken. Und im Nacken. Überall.“

      „Aber zumindest deine Temperatur scheint normal zu sein... Kannst du den Mantel ausziehen? Durch den Pelz hindurch kann ich nicht gut feststellen, was das Problem ist.“ Während Oredion Erdree half, den Mantel loszuwerden, erkundigte er sich: „Was hast du denn heute gemacht?“

      Erdree antwortete erst, als sie wieder still auf dem Bett saß. Sie fürchtete, dass sie ihre Stimme nicht unter Kontrolle hatte, während sie ihre schmerzenden Glieder bewegte. „Am Vormittag hatte ich

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