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gibt es keinen Beleg dafür, dass Johannes diese Quellen direkt kannte. Trotzdem tragen Texte aus der Zeit des Zweiten Tempels oder dem 1. Jahrhundert wie die Schriftrollen vom Toten Meer und die Werke eines Philo oder Josephus dazu bei, die Gedankenwelt zu verstehen, in der das Johannesevangelium entstand. Rabbinische Quellen tragen jedoch nicht direkt zu einem tieferen Verständnis des Vierten Evangeliums und seines besonderen historischen, sozialen, politischen und religiösen Kontexts bei. Da sich diese Gemeinsamkeiten in Texten finden, die mindestens ein Jahrhundert (z.B. die Mischna) und manchmal mehrere Jahrhunderte (der Babylonische und Jerusalemer Talmud) später entstanden sind, können sie dem Autor des Evangeliums nicht bekannt gewesen sein. Rabbinische Parallelen lassen jedoch erkennen, dass Ansichten und Probleme, die im Evangelium vorkommen, auch noch Jahrhunderte später von den Rabbinen diskutiert wurden. Das gilt beispielsweise für die Fragen nach dem Wesen des Monotheismus, nach der Möglichkeit von Wesen, die beim Schöpfungsakt mitgewirkt haben, oder nach der Bedeutung des Mannas. Freilich ist damit zu rechnen, dass sich in diesen späteren rabbinischen Quellen zum Teil älteres Material erhalten hat.

      Das Johannesevangelium bezieht sich mittels zahlreicher Zitate und Anspielungen auf den Pentateuch (die Tora), die Prophetenbücher und die Schriften (für Beispiele s. die Anmerkungen); sehr wahrscheinlich stammen diese aus einer griechischen Übersetzung. Wichtige biblische Gestalten wie Abraham, Mose und Jakob werden erwähnt. Sehr subtil orientieren sich einige größere Redeeinheiten an bestimmten biblischen Erzählungen. „Frau Weisheit“ und ihre Verbindung mit Gott und der Schöpfung bilden ein wichtiges Thema des Prologs in Joh 1,1–18 (Spr 8; Sir 24; Weish 10; vgl. Philo, opif.). Der Abrahamzyklus (Gen 12–36) liegt Joh 8,31–59 zugrunde, besonders der Gegensatz zwischen Ismael und Isaak (Gen 18; s.a. Joh 8,39–44), Abrahams Gastfreundschaft gegenüber den drei Boten Gottes (Gen 18; s.a. Joh 8,39–44) und die Tradition, dass Abraham eine Vision der Zukunft und der himmlischen Welt (Gen 15,17–20; s.a. Joh 8,53–58) gehabt habe. Der Auszug aus Ägypten steht im Hintergrund des ganzen sechsten Kapitels.

      Das Evangelium spielt auch auf nichtjüdische Vorstellungen an, etwa die messianischen Traditionen zu Mose und Josef im samaritanischen Werk Memar Marqa, Lehren Marqas. Die Vorstellung vom Logos als schöpferischer Kraft in der Welt gehört nicht nur in die jüdische Weisheitsliteratur, sondern ist auch in der griechischen Philosophie verbreitet, z.B. in den Arbeiten Heraklits, Aristoteles‘ und der Stoiker. Joh 6 bezieht sich auf das Buch Exodus, der Sprachgebrauch bei der Erörterung seines Hauptthemas aber – die Notwendigkeit, Jesu Leib zu essen und sein Blut zu trinken, um das ewige Leben zu erlangen – erinnert an Praktiken griechisch-römischer Mysterienkulte (z.B. Timotheos, Frag. 4) und spiegelt vielleicht sogar römische Anschuldigungen wider, wonach das Christentum eine subversive Sekte sei, die Kannibalismus und andere inakzeptable Bräuche praktiziere (z.B. Tac.ann. 15,44).

      Das Johannesevangelium und der Antijudaismus

      Obwohl das Johannesevangelium intensiv aus der jüdischen Tradition schöpft, ist es oft feindselig, wo es Juden und das Judentum ausdrücklich erwähnt. Der Begriff hoi Ioudaioi und seine Varianten kommen mehr als 70 Mal vor (s. „Ioudaios“). Die Übersetzung dieses Begriffs ist eine der umstrittensten Fragen bei der Auslegung des Johannesevangeliums. Ursprünglich bezeichnete er lediglich die „Einwohner von Judäa“, wurde aber im 2. Jahrhundert v.u.Z. ausgeweitet und bezeichnet seitdem alle Juden, ob sie nun in Judäa, in anderen Teilen des Landes Israel (z.B. Joh 6,41) oder in der Diaspora lebten (z.B. Philo). Einige Übersetzerinnen und Übersetzer sprechen sich für eine differenzierte statt einer einheitlichen Wiedergabe aus: um Jesu Feinde vom jüdischen Volk als Ganzem zu unterscheiden, sollte man „die Juden“ nur in neutralen oder positiven Kontexten verwenden, wie z.B. bei Erwähnungen von Festen der Juden (z.B. Joh 2,13; 5,1; 6,4), dagegen als „jüdische Autoritäten“ oder sogar „politische Autoritäten“, wenn der Begriff negativ gebraucht wird. Die Menschenmenge, die das „Brot des Lebens“ isst (Joh 6), oder diejenigen, die Jesus während des Laubhüttenfestes im Tempel lehren hören (Joh 7) sind z.B. Juden, aber noch nicht gegen Jesus voreingenommen. Außerdem sagt Jesus zur Samaritanerin: „das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22).

      Obwohl der jeweils mit hoi Ioudaioi konkret gemeinte Personenkreis in der Komposition des Evangeliums je nach Kontext variiert, überlagert die allgemeine Wirkung der stereotypen Wiederholung von hoi Ioudaioi den spezifischen Wortgebrauch. Die Wiederholung des Begriffs dient im Evangelium zwei rhetorischen Zwecken: Sie verwischt die Grenzen zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen und bezeichnet kollektiv die Kräfte, die Jesus feindlich gegenüberstehen. Es fällt auf, dass hoi Ioudaioi nie gebraucht wird, wenn es darum geht, die Jünger oder andere zu bezeichnen, die Jesus nachfolgen, auch wenn sie angesichts ihrer religiösen und ethnischen Herkunft sicherlich Juden waren. Ebenso wird Jesus mit einer Ausnahme nicht als Jude bezeichnet, nämlich als sich die Samaritanerin wundert, dass mit Jesus ein Jude eine Samaritanerin um etwas zu trinken bittet (Joh 4,9). Als positiven Begriff verwendet das Evangelium stattdessen „israelitisch“, „Israelit“ oder „Israel“. Jesus nennt Nathanael anerkennend einen „rechte[n] Israelit[en], an dem kein Falsch ist“ (Joh 1,47). Nathanael wiederum erklärt Jesus zum König Israels (Joh 1,49), und die begeisterte Menge, die Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem vor seinem letzten Pesach zujubelt, tut dasselbe (Joh 12,13). Die Folge davon ist, dass sich die Leserschaft von jeder Gruppe distanziert, die mit hoi Ioudaioi bezeichnet wird, unabhängig von dem tatsächlich gemeinten Kreis von Personen. Deshalb scheint auch die konsequent einheitliche Übersetzung von hoi Ioudaioi die angemessenste Lösung. Obwohl einige Fachleute den Begriff mit „Judäer“ wiedergeben, verwenden die meisten Übersetzungen zu Recht und einheitlich „Juden“.

      Von Anfang an stellt Johannes „die Juden“ als diejenigen dar, die Jesus ablehnen (Joh 1,11), ihn verfolgen (Joh 5,16), seinen Tod wollen (Joh 8,40), Gläubige aus der Synagoge vertreiben (Joh 9,22), Jesu Tod planen (Joh 11,49–53) und seine Anhängerinnen und Anhänger verfolgen (Joh 16,2). Außerdem ordnet das Evangelium in seiner stereotypen Rhetorik von Gegensatzpaaren die Juden immer dem negativen Pol zu: Fleisch statt Geist (Joh 6,63), Finsternis statt Licht (Joh 8,12), Tod statt Leben (Joh 5,24), ewige Verdammnis statt Heil (Joh 5,28), Satan statt Gott (Joh 8,44). Im Sprachgebrauch des Johannesevangeliums ist Ioudaios insgesamt ein negativ geprägter Begriff, der sich auf Juden bezieht, die nicht an Jesus als Messias und Sohn Gottes glauben, während „Israel“ ein positiver Ausdruck ist, der Juden bezeichnet, die auf die christologischen Ansprüche des Evangeliums vertrauen.

      Indem das Johannesevangelium den Ausdruck „die Juden“ gebraucht, um diejenigen zu bezeichnen – und zu verurteilen –, die nicht an Jesus glauben, ermutigt es seine Leserinnen und Leser, sich von allen zu distanzieren, die sich mit dieser Bezeichnung identifizieren. Das Evangelium könnte daher für „antijüdisch“ gehalten werden, weil es behauptet, dass Juden, die nicht an Jesus als den Christus und Sohn Gottes glauben, ihr Bundesverhältnis mit Gott verlassen haben (Joh 8,47). Man muss betonen, dass das Evangelium nicht in einem rassistischen Sinn antisemitisch ist, da nicht die Herkunft eines jeden entscheidet, sondern sein/ihr Glaube. Trotzdem diente das Johannesevangelium dazu, Antisemitismus zu fördern. Besonders verheerend hat Joh 8,44 mit der Aussage Jesu gewirkt, dass die Juden den Teufel zum Vater haben. Die Verbindung der Juden mit dem Satan oder dem Teufel ist ein durchgehendes Element in antisemitischen Diskussionen und Bildern, in Holzschnitten wie dem Bild „Der Jude, der den Teufel aus einem Gefäß voll Blut anruft“ (1560, gefunden in den Histoires Prodigieuses, ca. 1517–1566), in Dramen wie „Der Kaufmann von Venedig“, in dem der jüdische Kaufmann Shylock als „eine Art von Teufel“, „der Teufel selber“ oder „der wahre eingefleischte Teufel“ bezeichnet wird (2. Akt, 2. Szene) oder in den Webseiten weißer Rassisten, um nur einige Beispiele zu nennen.

      Die

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