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mit Wissen und Zustimmung des Amtsvormundes. Elsa hat zudem den Wunsch geäußert, ganz zu der Mutter zu ziehen, auch um diese bei der Versorgung der kleinen Halbschwester zu unterstützen. Nach einem Streit mit der Mutter zieht Elsa diesen Wunsch jedoch zurück und lebt wieder mit ihrer Schwester Maria bei der Großmutter, die aber nun dem Pflegekinderdienst gegenüber deutlicher von ihrer Überforderung mit der Versorgung der beiden Enkeltöchter spricht.

      In dieser konkreten Situation ist Frau Maier für den Fall zuständig geworden. Im Hilfeplangespräch gemeinsam mit der Großmutter, den beiden Mädchen sowie dem Amtsvormund und der Fachkraft des Pflegekinderdienstes kann nicht viel geklärt werden, Großmutter und Mädchen sind – wie früher schon – in dem Gespräch sehr verschlossen. Es scheint, dass sie Frau Maier erst einmal kennenlernen müssen, bevor sie sich im Gespräch mehr öffnen. Elsa will aktuell nicht zur Mutter und lieber in der Großstadt, bei ihren Freunden und in ihrer Schule bleiben. Dagegen kann Maria, die jüngere, sich jetzt vorstellen, zur Mutter zu ziehen.

      In den folgenden Wochen kommt es mit dem Jugendamt vermehrt zu Streit um den Aufenthalt der beiden Mädchen, weder die Großmutter noch die Mutter wissen teilweise, wo die Mädchen sich aufhalten. Der Amtsvormund stellt fest, dass die Kinder nicht bei der Oma sind und meldet sie bei der Polizei als vermisst. Diese kann sie jedoch im Haus der Mutter ebenfalls nicht finden. Die Mutter gibt an, nicht zu wissen, wo sie sich aufhalten. Am Tag darauf tauchen beider wieder bei der Großmutter in der Großstadt auf und erzählen, sich auf dem Dachboden im Haus der Mutter versteckt zu haben.

      Notfallplan wird erarbeitet

      In einem erneuten Hilfeplangespräch mit der Großmutter wird zum einen ein konkreter „Notfallplan“ dazu vereinbart, wie sie zukünftig dem Amtsvormund mitteilt, wenn die Kinder nicht bei ihr sind und die Mutter besuchen (Aufenthaltsbestimmungsrecht des Amtsvormunds). Zudem schlagen die Fachkraft des Pflegekinderdienstes und die neue fallzuständige Fachkraft des ASD, Frau Maier, der Großmutter ein sogenanntes Elterncoaching sowie eine aufsuchende Familientherapie vor, um die Belastungen und Probleme im Umgang mit den beiden Mädchen zu „bearbeiten“. In diesem Gespräch offenbart die Großmutter, dass beide Mädchen Kontakt zu ihren (unterschiedlichen) Vätern haben, Maria regelmäßig alle 14 Tage, Elsa seltener, zumal ihr Vater in einer ca. 200 km entfernten Stadt lebt.

      Die Großmutter kann nicht mehr.

      Gut einen Monat später, im November, sind weder die Großmutter noch die Mädchen trotz vereinbarter Gesprächstermine für etwa eine Woche erreichbar. Danach melden sie sich und erzählen, dass sie alle bei der Mutter waren, die wieder schwanger sei und der sie helfen mussten. Trotz erneuter „Ermahnung“ des Amtsvormunds, den Aufenthalt der Mädchen jederzeit wissen zu müssen, bleiben die Kontakte schwierig. Die Weihnachtszeit steht bevor und die ASD-Fachkraft „ordnet an“, dass danach, spätestens am 3. Januar, alle verbindlich wieder in der Großstadt sind, um sich zu einem erneuten Hilfeplangespräch zu treffen. Denn inzwischen ist auch deutlich geworden, dass weder das Elterncoaching noch die aufsuchende Familientherapie von der Großmutter angenommen werden. Nachdem zwar nicht am 3., aber am 8. Januar tatsächlich Großmutter, beide Mädchen und der Vater von Maria zum Hilfeplangespräch kommen, wird zum einem erzählt, dass die Mädchen über die Weihnachtstage jeweils bei ihren Vätern waren, die Familie also für sie gesorgt habe, eine Dauerlösung sei dies aber auf keinen Fall. Zum anderen wird eine Hilfe in der Familie zur Entlastung der Großmutter von ihr vehement abgelehnt.

      Eine neue Tochter wird geboren.

      Zugleich aber deutet sie an, ohne es deutlich auszusprechen, dass sie sich nicht mehr um die beiden älteren Enkeltöchter kümmern könne, denn jetzt brauche sie ihre eigene Tochter dringend, die am 1. Januar eine weitere Tochter geboren habe.

      Mit diesen Informationen soll die zuständige Fachkraft des Jugendamtes / ASD nun entscheiden, was sie mit den Mitteln und Möglichkeiten der Jugendhilfe tun kann, um Versorgung, Betreuung und Erziehung von Elsa und Maria zukünftig zu sichern.

      Welche Aufgaben stellen sich hier generell – und für wen?

      Für die zuständige Fachkraft eines Jugendamtes / ASD stellen sich in einer solchen Situation viele Fragen und gleichzeitig ist sie mit deutlichen Erwartungen konfrontiert:

      ■Wo können Elsa und Maria längerfristig leben?

      – Doch wieder bei ihrer Mutter, dem neuen Partner und den beiden kleinen Halbschwestern, aber nicht mehr in ihrer bisherigen Umgebung mit Schule und FreundInnen

      – oder doch besser bei der Großmutter? Hier haben sie FreundInnen und Kontakte, gehen zur Schule – aber ihre Großmutter ist erschöpft und will sich um die neuen Kinder ihrer Tochter kümmern und diese mit den kleinen Mädchen unterstützen.

      ■Alle Familienmitglieder, auch Elsa und Maria, sind sehr zurückhaltend und vorsichtig dem Jugendamt gegenüber und haben bisher auch ein Jugendamt erlebt, das ihnen gegenüber eher verhalten reagiert hat. Wie kann der neuen Fachkraft ein eigener und interessierter Zugang gelingen, ohne die Mädchen einzuschüchtern, aber auch ohne Versprechungen zu machen, die sie nicht halten kann?

      ■der Vormund schwankt zwischen dem Wunsch, in seinen Rechten ernst genommen zu werden (Aufenthaltsbestimmungsrecht) und der Resignation, dass die Familie doch tut, was sie für richtig hält. Auch erwartet er die Loyalität seiner neuen ASD-Kollegin.

      ■die KollegInnen sowie die Leitung des ASD-Teams erwarten von der jungen Kollegin vor allem, dass sie sich nicht so lange mit einem Fall aufhält, der nicht so dringend erscheint, da viele andere und dringendere Fälle auf sie warten.

      Aus der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe ist die Situation von Elsa, Maria und ihrer Familie ein „Fall“ mit definierten Aufgaben und Zuständigkeiten für Kinder und Eltern, mit einem konkreten Anlass und deutlichen Erwartungen, aber auch ein Fall mit Geschichte und Hintergründen. Aus der konkreten eigenen Sichtweise und Einschätzung der zuständigen Sozialarbeiterin im ASD geht es im Fall zunächst vor allem um folgende Fragen und Herausforderungen:

      Fragen sozialpädagogischer Diagnostik

      ■Wie können Vielfalt und Komplexität mit Blick auf „das wirkliche Leben“ von Elsa, Maria, ihrer Großmutter, aber auch ihrer Mutter und deren neuer Familie sowie ihre Erwartungen an das Jugendamt systematisch erfasst und bedacht werden, ohne den Überblick zu verlieren, aber auch ohne etwas Wichtiges zu übersehen?

      ■Wie kann sie die Erfahrungen der bisher mit diesem Fall befassten Fachkräfte in ihrem Jugendamt verstehen und einordnen, insbesondere des mit ihr für die beiden Mädchen zuständigen Vormunds sowie der für die Verwandtenpflege zuständigen Fachkraft des Pflegekinderdienstes?

      ■Und wie kann dieses im Prozess entstehende komplexe Bild anschließend wieder entscheidungs- und handlungsorientiert reduziert werden, damit auch konkrete Antworten gefunden werden, was zu tun und was zu lassen ist?

      Wann wird ein Fall zum Fall?

      Eine wichtige Voraussetzung für Fallverstehen und Diagnostik wird bereits deutlich: Zu einem Fall für die Jugendhilfe werden (problematische) Lebensgeschichten, materielle und soziale Lebenslagen und konkrete Lebenssituationen erst, wenn sie professionell beschrieben, also als Fall definiert, und dann bearbeitet werden. Ein solcher Fall ist nie eine Lebenssituation allein, sondern immer die damit verbundene spezifische Mischung aus akuter Situation, Lebens- und Hilfegeschichte und rechtlich bestimmten Aufgaben und Zuständigkeiten. Und diese Komplexität gilt es für sozialpädagogische Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, hier für die Sozialarbeiterin eines Jugendamtes, zu durchblicken und zu verstehen (Kap. 2.2):

      ■Zum einen die Mischung aus (1) aktueller Situation, meist verbunden mit akuten Anfragen, Sorgen und Problemen, aus (2) Geschichte und Geschichten aller Beteiligten und aus (3) den konkreten Aufgaben und Zuständigkeiten in und für diesen Fall.

      ■Zum anderen die Position als sozialpädagogische Fachkraft im Blick auf die konkreten Menschen, deren Lebenssituation, Erwartungen und Befürchtungen ebenso wie auf die eigenen gesetzlichen Aufträge und die organisatorische Verfassung als Teil eines professionellen Dienstes.

      Wozu

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