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diskurstraditionelle (textsortenspezifische) Konventionen der Form- und Sinnbildung anschließt, dessen situative Einbettung und damit verbundene Handlungswirklichkeit aber nichtsdestoweniger einmalig ist (Koch/Oesterreicher 2011, 4s.). Das zugrundeliegende Prinzip der „sukzessiven Determination des Sprachbegriffs“ (Oesterreicher 1988, 360) als universeller menschlicher Tätigkeit, die sich, geregelt durch einzelsprachliche und diskurstraditionelle Normen, in individuellen Diskursexemplaren äußert, basiert auf Coserius (1955/1956) berühmtem Dreiebenenmodell, das für Kochs und Oesterreichers sprachtheoretisches Verständnis fundamental ist (vgl. Oesterreicher/Koch 2016, 32–35). Aus der skizzierten pragmatischen Idiosynkrasie der Diskurse folgt jedenfalls, dass letztlich jedes einzelne variationelle Datum unter dem Deutungsvorbehalt seiner individuellen Okkurrenz im Diskurszusammenhang zu betrachten ist und nicht per se schon als Basis für varietätenlinguistische Generalisierungen mit entsprechendem Vorhersagbarkeitsanspruch dienen kann. Auf diesen wissenschaftstheoretischen Statusunterschied zwischen Sprachdaten, die aus individuellen Diskursexemplaren gewonnen werden, und „linguistischen Fakten“ – also Variationsregeln, die der Linguist aus diskursiven Einzelvorkommnissen abstrahiert – haben zuletzt Oesterreicher/Koch (2016, 50) hingewiesen. Nicht einmal innerhalb einzelner Diskurse kann nämlich aufgrund der Prozessualität sprachlicher Kommunikation von einer durchgängigen Stabilität sämtlicher kommunikativ relevanter Parameter oder deren handlungsstrategischer Gewichtung durch die Sprechenden ausgegangen werden. Vielmehr ist im Einzelfall prinzipiell mit besonderen, an spezifische kommunikative Effekte gebundenen Verwendungen zu rechnen, die von den prototypischen, aufgrund bestimmter Kommunikationsbedingungen erwartbaren Konzeptionen abweichen und die eben nur im Rahmen des individuellen, unter Umständen gar nur lokal zu begreifenden Diskursgeschehens ihren spezifischen Sinn ergeben (cf. Selig 2017, 135–138). Aufgrund der kreativitätsbasierten Offenheit der konzeptionellen Gestaltung (der „Realisierung eines subjektiven Sinns“, s.o.) ist also gerade nicht von einer allgemeingültigen, mechanistischen Determination des sprachlichen Profils von Einzeldiskursen durch bestimmte außersprachliche Parametersetzungen auszugehen. Diskurse wären ja sonst nichts als die automatische, im Prinzip immer gleiche Instanziierung von variationellen Regeln, und die diskurstraditionelle Normativität würde sich insofern nicht wesentlich von den durch das Sprachsystem vorgegebenen formalen Zwängen der Grammatik unterscheiden. Eine derartige, deterministische Sicht der Variation, die dem Wunsch der (totalen) Operationalisierbarkeit varietätenlinguistischer Modelle letztlich zugrunde liegt, würde aber der Komplexität des Gesamtphänomens der menschlichen Sprechtätigkeit nicht gerecht; denn sie verkennt die Tatsache, dass sprachliches Handeln in Situationen zwar grundsätzlich typisierbar ist – genau dies versucht ja das Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz zu leisten –, dass die Ausgestaltung des (universellen) konzeptionellen Variationspotenzials im Diskurs aber immer auch kreativitätsbasiert erfolgt, nämlich als individuelle und in letzter Instanz dem Willen des Sprechenden obliegende kommunikative Handlung, die, prinzipiell autonom, auf einen in seiner spezifischen Konfiguration immer einmaligen Komplex situativer Merkmalsausprägungen reagiert.2

      In diesem Zusammenhang erscheint eine Klarstellung hinsichtlich des bereits angesprochenen, von Koch und Oesterreicher sehr prominent gemachten Begriffs der ‘Diskurstraditionen’ und deren Stellenwert innerhalb der Nähe/Distanz-Theorie notwendig (cf. dazu grundlegend Koch 1997a und Oesterreicher 1997): Zwar basieren die von den Autoren (2011, 7–10) zur Charakterisierung von Diskurstraditionen (Textsorten, kommunikativen Gattungen) exemplarisch skizzierten „konzeptionelle[n] Relief[s]“ auf der Annahme, dass eine prototypische, normativ relevante Zuordnung von bestimmten Kommunikationsbedingungen (Situationstypen) und bestimmten Versprachlichungsstrategien grundsätzlich möglich und varietätenlinguistisch aufschlussreich ist. Es handelt sich bei diesen konzeptionellen Profilen aber lediglich um idealtypische3 Konfigurationen, die so keineswegs im individuellen Diskurs realisiert werden müssen. Die tentative Verortung von Diskurstraditionen im konzeptionellen Kontinuum unterstreicht vielmehr die sprachsoziologische Bedeutung konventionalisierter kommunikativer Praktiken und Verhaltensnormen sowie deren grundsätzliches Interesse für die varietätenlinguistischen Beschreibung (cf. dazu schon das Konzept der „Sprachhandlungsroutinen“ bei Steger et al. 1972 sowie RAIBLE und LÓPEZ SERENA i.d.B.). Wie bereits Koch (1997a) gezeigt hat, sind diese historisch verfestigten Normkonzepte aber ungleich flexibler und ungleich offener für kreative Weiterentwicklung und situative Ausdifferenzierung als die im Grunde für jeden kompetenten Sprecher einer historischen Einzelsprache stets absolut verbindlichen Regeln der Grammatik (cf. dazu auch Winter-Froemel 2020). So dürfte etwa ein Vorstellungsgespräch im professionellen Umfeld (cf. Koch/Oesterreicher 2011, 9) zwar in der Regel auf der Basis bestimmter außersprachlicher Parameterwertsetzungen stattfinden (geringer Grad der Vertrautheit der Gesprächspartner, geringe emotionale Beteiligung, relativ starke Themenfixierung, raumzeitliche Kopräsenz usw.), und in dieser prototypischen, soziokulturell tradierten Ausprägung ist das Bewerbungsgespräch als abstraktes, normativ maßgebliches Handlungskonzept (als ‘Skript’) wohl auch im Wissen der sozial kompetenten Akteure abgespeichert. Nichts schließt aber aus, dass Bewerbungsgespräche beispielsweise am Telefon geführt werden oder zwischen zwei Personen stattfinden, die sich seit Langem kennen; auch kann es vorkommen, dass Interviewpartner, die sich zunächst völlig fremd sind, im Lauf des Gesprächs bestimmte Gemeinsamkeiten entdecken (persönliche Interessen, regionale Herkunft usw.), so dass sich plötzlich ein viel vertrauterer und emotionalerer Umgang einstellt, als dies für ein idealtypisches, eher distanziertes Bewerbungsgespräch unter Fremden zu erwarten wäre. Es sind hier – auf der Ebene der Einzeldiskurse – unendlich viele Aktualisierungsformen einer prototypischen kommunikativen Gattung denkbar. Und völlig unbeschadet der normativen Bedeutung diskurstraditionellen Konventionswissens kann die im Prozess der sprachlichen Interaktion stets wirksame Kreativität dazu führen, dass bestimmte kommunikative Parameterwerte (z.B. gemeinsames Kontextwissen) im Diskursverlauf neu gesetzt oder in ihrer relativen Pertinenz neu bewertet werden.4 Den Sprechenden steht es also jederzeit frei, Nähe oder Distanz (bewusst) herzustellen, Kommunikationssituationen im Diskursverlauf neu zu definieren, wechselnde kommunikative Haltungen und Rollenverständnisse einzunehmen oder auch auf unterschiedlichen, gegebenenfalls kopräsenten Diskursebenen sprachliche Nähe und Distanz in variabler Abstufung zu realisieren.5 Dazu schrieb zuletzt Wulf Oesterreicher:6

      … es [ist] eigentlich kaum möglich, die Stellung einzelner Diskurstraditionen im Kontinuum exakt quantifizieren zu wollen. Vor allem auch bei der Charakterisierung von einzelnen Diskursexemplaren sind grundsätzlich historisch-hermeneutische Erwägungen unabdingbar, die sich vor allem auf Vorentscheide bei der Gewichtung verschiedener Dimensionen der Kommunikationsbedingungen und bei der Bewertung der festgestellten Parameterwerte sowie der Gewichtung der ausgewählten sprachlichen Phänomene beziehen. Es handelt sich dabei immer um Optionen, die zu explizieren sind. Diese epistemologische reservatio ist unbedingt zu beachten, führt sie doch in den beschriebenen Bereichen zu einer wichtigen wissenschaftstheoretischen Kennzeichnung der Arbeit in unserer Disziplin Linguistik. (Oesterreicher/Koch 2016, 30s.; Kursivierung im Original)

      Die im Zitat verteidigte deskriptive Offenheit des Nähe/Distanz-Modells wurde Koch und Oesterreicher bekanntlich vielfach zum Vorwurf gemacht (cf. etwa Feilke/Hennig 2016b, 1s.; Knobloch 2016). Man darf aber auch annehmen, dass diese Offenheit in Unkenntnis ihrer sprachtheoretischen Voraussetzungen vielfach grundlegend missverstanden wurde (explizit positiv wird die Flexibilität des Nähe/Distanz-Modells dagegen von CALARESU/PALERMO i.d.B. hervorgehoben; cf. Abschnitt 3). Denn die Autoren verfolgen wie gesagt nicht das Ziel, die universelle Nähe/Distanz-Variation ‘messbar’ zu machen im simplifizierenden Sinn einer direkten Verrechenbarkeit von sprachlichen Rohdaten – die immer aus individuellen Diskursexemplaren gewonnen werden – und damit checklistenartig zu korrelierenden außersprachlichen Faktoren, die, etwa qua Textsorte oder Sprechsituation, vorab gesetzt und innerhalb des Diskurses stabil wären. Die empiristische Vorstellung einer derart ‘blind’ parametrisierenden, rein korrelationsbasierten varietätenlinguistischen Methodik erweist sich letztlich als Illusion: So kann beispielsweise aus dem äußeren Rahmen eines in raumzeitlicher Kopräsenz phonisch realisierten Gesprächs zwischen Freunden im Café nicht vorhergesagt werden, ob sich in dieser Situation ein ausgelassener, nähesprachlicher Austausch über Alltagsdinge entwickelt oder eine überwiegend distanzsprachlich realisierte philosophische Diskussion; selbst abrupte Wechsel der diskurstraditionellen Orientierung

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