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an der Zustimmung, die ihm die Fach-Community entgegenbringt („Das ist nicht das Geschäft der Wissenschaft“; Feilke/Hennig 2016b,1). Vielmehr zeigt sich die Bedeutung einer Theorie auch im kritischen Echo und in der Lebendigkeit der Kontroverse, die sie hervorruft, denn wissenschaftliche Erkenntnis lebt vom Widerspruch und von der Revision bestehender Modelle. Die kritischen Positionierungen, die die von Koch und Oesterreicher entwickelte Varietätenlinguistik auf den Plan gerufen hat, sind nun in der Tat zahlreich, und meist richten sich die vorgebrachten Einwände gegen zentrale, axiomatische Annahmen des Nähe/Distanz-Modells, so dass dessen Beschreibungsadäquatheit dadurch grundlegend in Frage gestellt scheint (cf. etwa Albrecht 1986/1990 und 2003; Hunnius 1988 und 2012; Aschenberg 1991; Dufter/Stark 2003; Androutsopoulos 2007; Glessgen/Schøsler 2018, 35, Anm. 21). Vor allem in der medienlinguistischen Diskussion stößt das Modell überwiegend auf Ablehnung (s.u.). Dabei fällt die Kritik mitunter so vehement aus, dass man sich – gerade als überzeugter Anhänger des Nähe/Distanz-Modells – die Frage stellen muss, inwieweit die Berufung auf ein derart kontrovers beurteiltes Paradigma in Forschung und Lehre eigentlich noch zu rechtfertigen ist (cf. zur Kritik etwa Hunnius 2012; Krefeld 2015 und 2018 sowie den Großteil der Beiträge in Feilke/Hennig 2016a; cf. allerdings auch die Relativierungen von Selig 2017 und Winter-Froemel 2020).

      Die Kluft, die heute zwischen teils vernichtender Kritik am Nähe/Distanz-Modell und dessen gleichwohl ungebrochenem Erfolg in bestimmten Forschungstraditionen besteht, legt es nahe, eine metakritische Perspektive einzunehmen und den Widersprüchlichkeiten auf den Grund zu gehen, die die Geschichte der Koch/Oesterreicher-Rezeption kennzeichnet. An partikulären Revisionen, die das Modell aus dem spezifischen Blickwinkel einer linguistischen Subdisziplin und der darin erprobten Methodik betrachten, herrscht ja offenkundig kein Mangel, und es steht auch selbstverständlich jedem Rezipienten frei, die Tauglichkeit eines Theorieangebots für sich, nach Maßgabe seiner individuellen Erkenntnisziele, zu bewerten. Im Fall des Nähe/Distanz-Modells haben aber solche Beurteilungen, die ihrerseits auf bestimmten, in der Regel impliziten theoretisch-methodologischen Voreinstellungen beruhen, immer wieder zur Zurückweisung bestimmter Annahmen geführt, ohne dass, komplementär dazu, die Frage gestellt wurde, weshalb das Modell in anderen Theorie- und Anwendungsperspektiven gleichwohl derart populär und wirkmächtig ist. Um den in der Diskussion häufig ausgeblendeten oder gar als ungerechtfertigt dargestellten Erfolg des Nähe/Distanz-Modells erklären zu können, möchten wir im Folgenden der Frage nachgehen, ob der immer wieder erhobene Vorwurf der Überholtheit und deskriptiven Unbrauchbarkeit nicht ein Stück weit aus Fehldeutungen und Usurpationen resultiert, die das Modell bei seiner Rezeption und perspektivischen Auslegung in verschiedenen linguistischen Schulen erfahren hat.10

      Der Eindruck, dass sich die Koch/Oesterreicher-Kritik in den letzten Jahren zunehmend verselbständigt hat, entsteht unter anderem aufgrund der gängigen Praxis, dass das Nähe/Distanz-Modell meist vergleichsweise oberflächlich, auf der Basis programmatischer Synthesen in besonders einflussreichen Publikationen (wie etwa Koch/Oesterreicher 1994, 2001 oder [1990] 22011), rezipiert wird. Dabei unterbleibt jedoch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den sprachtheoretischen Grundlagen, auf denen Koch und Oesterreicher – in weniger bekannten Texten – ihre Modellierung aufgebaut haben. Das Modell wird also nicht einfach nur aus dem historischen Kontext seiner Entstehungszeit gerissen (dieser Gedanke wird oft apologetisch geäußert, um die vermeintliche Hilflosigkeit des Modells bei der Beschreibung des Sprachgebrauchs in den Neuen Medien zu erklären; cf. dazu Abschnitt 3); es wird vielmehr seiner theoretischen Substanz beraubt und damit in gewisser Weise sinnentleert. Die große Resonanz, die dem Modell über die Jahre zuteil wurde, ist ja auch eine Folge der intuitiven Nachvollziehbarkeit und didaktischen Attraktivität seiner prägnanten graphischen Visualisierung (cf. Abbildung 1; cf. Dürscheid 2016, 359). Dieser rezeptionsgeschichtliche Selektionsvorteil (cf. RAIBLE i.d.B.) scheint dem Modell aber unter der Hand auch zum Nachteil gereicht zu haben – insofern nämlich, als die eingängige graphische Darstellung einer vorschnellen, eklektischen, eben intuitionsbasierten Aneignung Vorschub leistet und damit zur stillschweigenden, womöglich unbeabsichtigten Umdeutung nach Maßgabe eigener Erkenntnisinteressen und methodologischer Gewissheiten geradezu einlädt. Wie sich aber bei genauerer Prüfung der gegen Koch und Oesterreicher ins Feld geführten Einwände zeigt, sind die epistemisch voreingestellten Lektüren, zu denen das Nähe/Distanz-Modell angeregt hat, oft gar nicht mit dessen theoretischem Fundament kompatibel. Im Ergebnis führt die unterlassene Auseinandersetzung mit den theoretischen Voraussetzungen des Nähe/Distanz-Modells dann auch nicht selten zu dessen erfolgloser Anwendung auf Fragestellungen, für die es eigentlich nicht gemacht ist, und in der Folge zu dessen ungerechtfertigter Abqualifizierung. Um derartige Anwendungsirrtümer zu vermeiden und eine objektive Würdigung des Modells zu ermöglichen, scheint es uns somit geboten zu sein, die Kritik in ein adäquates Verhältnis zur sprachtheoretischen Innensicht von Kochs und Oesterreichers Varietätenlinguistik zu setzen. Wie sich zeigt, führt dieser Schritt in vielen Fällen zu der Einsicht, dass die dem Nähe/Distanz-Modell vorgeworfenen Schwächen zuallererst ein perzeptives Phänomen sind, das aus der Projektion von epistemisch-methodologischen Voreinstellungen resultiert, die allerdings im Widerspruch zur universalistischen, sprachtheoretisch anspruchsvollen Idee des konzeptionellen Kontinuums stehen.

      Es sind vor allem zwei Aspekte, die in der Rezeption des Nähe/Distanz-Modells für Diskussion und teils erbitterten Widerspruch gesorgt haben. Der abgesehen von Oesterreicher/Koch (2016) ausschließlich germanistische Beiträge umfassende Band von Feilke und Hennig vermag nur von einer dieser beiden Traditionslinien einen Eindruck zu geben, denn die darin versammelten Aufsätze stellen fast ausschließlich auf die im Wesentlichen erst um die Jahrtausendwende lautgewordene Kritik an der „Medienindifferenz“ des Nähe/Distanz-Modells ab (cf. dazu Abschnitt 3 sowie DÜRSCHEID i.d.B.).11 Die etwas ältere Debatte setzt dagegen schon unmittelbar nach der Erstveröffentlichung der Gesprochenen Sprache in der Romania (1990) ein und wurde, soweit wir sehen, bislang nur innerhalb der Romanistik geführt: Sie betrifft die erstmals von Oesterreicher (1988) vorgeschlagene,12 dann in Koch/Oesterreicher (1990) wiederholte Verknüpfung des universellen Nähe/Distanz-Kontinuums aus dem 1985er-Aufsatz mit Coserius (1969; 1988) Modellierung des einzelsprachlichen Varietätenraums als dreigliedrige, hierarchisch organisierte ‘Architektur’ von Teilsystemen, die einer räumlichen (‘diatopischen’), einer sozialen (‘diastratischen’) und einer stilistischen (‘diaphasischen’) Dimension13 zugeordnet sind (cf. dazu etwa Aschenberg 1991; Kiesler 1995; Dufter/Stark 2003). In der Tat erscheint Coserius strukturalistisch inspiriertes, auf einem Vorschlag von Flydal (1951) basierendes Modell des einzelsprachlichen ‘Diasystems’ von seinen theoretischen Voraussetzungen her nicht ohne weiteres mit einem Ansatz vereinbar, der die sprachliche Variation „kommunikativ-funktional“ (Koch 1999, 156) begreift und auf universelle Grundprinzipien der menschlichen Sprechtätigkeit zurückführt.14 Der Clou des von Oesterreicher (1988) hergeleiteten Kombinationsmodells (cf. Abbildung 2) besteht aber gerade darin, dass es das theoretische Spannungsverhältnis zwischen (einzelsprachlichem) ‘Diasystem’ und (universeller) ‘Nähe/Distanz’ – eine Spannung, der wissenschaftsgeschichtlich die pragmatische Wende der 1970er Jahre entspricht – in eine zusammenhängende, nunmehr vierstufige Hierarchie von Varietätendimensionen übersetzt. Die konzeptionelle Variation im Nähe/Distanz-Kontinuum – die „anthropologisch verankerte Verflechtung zwischen situationeller und sprachlicher Variabilität“ (Selig 2011, 113) – wird dabei aufgespalten in eine universelle (1a) und eine einzelsprachliche Ebene (1b) und bildet dergestalt das leitende Prinzip der diasystematischen Variation à la Coseriu (Ebenen 2–4).

      Abbildung 2:

      Der einzelsprachliche Varietätenraum im ‘Kombinationsmodell’ (Koch/ Oesterreicher 2011, 17)

      Es ist im Rahmen dieses Einleitungskapitels nicht möglich, im Detail die facettenreiche – und vielfach hoffnungslos verfahrene – Diskussion nachzuzeichnen, zu der die im Kombinationsmodell verdichtete, von Koch und Oesterreicher stets konsequent verteidigte varietätenlinguistische Theorie in den vergangenen Jahrzehnten geführt hat. Auf den folgenden Seiten begnügen wir uns deshalb damit, schlaglichtartig einige zentrale Fragestellungen zu umreißen, die in der Rezeption des Nähe/Distanz-Kontinuums und seines diasystematischen Unterbaus kritisch diskutiert wurden und die auch Gegenstand der elf in diesem Band

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