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schritt er aus, und vor ihm tänzelte der Narr und winkte ihm. Die Szene war gut, das Fräulein Varnhagen hatte sie sich ausgedacht, und sie fand, sie fülle gut eine Lücke aus. Und dann erinnerte sie an einen Totentanz. Warum sich das Komitee gerade über diese Szene aufregte? Der Fahnderwachtmeister Brügger bekam einen roten Kopf, als der Dichter Kehrli eingriff und dem Fräulein Varnhagen recht gab. Und der Bierreisende schrie, das sei dekadent, das Volk wolle bodenständige Kunst … Geschlichtet wurde der Zwischenfall von dem Komponisten Gygli, der Erfahrung in solchen Dingen hatte (er bewies wieder, dass Leute wie er geradeso rar waren wie die Beethoven), er gab beiden Parteien recht, es kam zu einem Kompromiss, der Tod durfte allein über die Bühne spazieren, ohne den Narren …

      Hinter den Kulissen saß der Dichter Kehrli auf einer Kiste und weinte. Die Tränen liefen ihm über die Backen. Fräulein Varnhagen trat zu ihm, sie trug noch immer die schwarze Mönchskutte aus gefärbtem Fahnenstoff, nur die Kapuze hatte sie zurückgeschlagen. «Was ist denn passiert …?», fragte sie. Es kam stockend heraus: Dass er nur Gemeindeschreiber sei, bald dreißig Jahre alt, dass die Aufführung das Schönste sei, was er je gesehen, und dass die ‹Bürger› (ja, er sagte die ‹Bürger›, wie irgendein romantischer Poet!), dass die Bürger alles versauen müssten … Und weinte hemmungslos. «Na, na, Chlyner», sagte Elisabeth sehr sanft und strich dem Dichter über die Haare, die braun und dicht und kurz waren. «Wer wird denn brüelen wie ein kleines Kind!» Johann Kehrli nahm die Hand, die ihn streichelte, und küsste sie. «Ein Gemeindeschreiber!», sagte er und hatte noch ein trockenes Aufschluchzen. «Was willst du mit einem Gemeindeschreiber anfangen?» – «Das wird sich alles finden!» Und der Tod setzte sich neben den Dichter auf die Kiste. Durch die Ritzen des Zeltes schlich sich ein kleiner Abendwind, es roch nach Staub und frischem Holz und ganz schwach nach blühenden Roggenfeldern …

      Das Komitee ging in den «Schweizerhof» tagen. Es beruhigte sich erst spät. Auf dem Nachhausewege stellte der Hilfsredaktor vom Landboten fest, dass die Luft «gut schmöcke». Aber das ging vorbei, denn der Bierreisende hatte einen neuen Witz gehört und wollte ihn anbringen. Das Licht der Bogenlampen in der Hauptstraße war grell, darum war auch der Himmel nicht zu sehen …

      Die Festvorstellung kam heran. Zehn, fünf, drei, zwei Franken Eintritt. Das Zelt war gestopft voll. Den Tag durch hatten fünfzig Musiken das gleiche Stück geblasen, eine nach der andern. An einem reservierten Tisch saßen die Schiedsrichter und blickten drein, als hätten sie alle einen schweren Rausch. Dabei waren sie nüchtern. Aber ihr Kopf war so voll von den Rhythmen des einzigen Marsches, der den ganzen Tag hindurch in ihre Ohren gepresst worden war, dass sie nicht mehr denken konnten. Sie hatten Biergläser vor sich stehen … Zuerst schliefen sie, als der Saal verdunkelt wurde. Aber dann wachte einer nach dem andern auf, die Musik des alten Gygli war «rassig», wie sie sagten, droben auf der Bühne wehten farbige Fetzen um Mädchenkörper, es war alles bunt und neu und fern … Ein Chor sang, er stand gerade unter der Bühne, und unter ihm, auf dem niedersten Podium, saß die Musik, viel Streicher, viel Holz und wenig, ganz wenig Blech. Das gefiel den alten Herren Schiedsrichtern. Sie murmelten: «glatt» und «suber», und als der Gott Merkur seinen großen Aufschwung mit Sprung machte, begannen sie zu klatschen, blinzelten sich zu mit «Hä?» und «Hm?» «Chascht das au?» Und als die «Industrie» zehn Mann hoch über die Bühne stapfte («und eins … und zwei … tatatam tatam …») und der Chor dazu dunkle Worte sang, die sich anhörten wie «Silös Sabine sie erfilz sie knie», waren sie ganz zufrieden. Werkmeister, Ladenbesitzer, Gärtner, Schreiber. Ihr Atem war kurz geworden, sie konnten nicht mehr in die gelben Mundstücke blasen. Aber ihre Hälse waren breit, und wenn sie den Atem anhielten, weil sie etwas besonders schön fanden, dann blähte sich ihre Haut rechts und links vom Kinn, wie die Schwimmblasen bei Fröschen …

      Und dann kam natürlich die Sache mit den Bratwürsten. Der Chor setzte sich für sich, die Musik setzte sich für sich … Es waren geschlossene Gesellschaften. Aber die Leute, die oben getanzt hatten, dieses Gemisch aus Lehrerinnen, Stenotypistinnen, Arbeitern, Studenten und Ingenieuren – sie wollten nirgends hinpassen. Sie hatten nicht viel Geld. Fräulein Varnhagen fand, das Komitee dürfe ihnen etwas z’Nacht aufstellen. Das Komitee meinte, nun sei die große Stunde gekommen, nun könne man die Unbotmäßigen bodigen … Es bewilligte eine Limonade, eine Flasche Limonade für zwei … Kleinlich und ungeschickt. Der Dichter Kehrli saß am Tische des Komitees. Er stand auf und sagte seinem entfernten Verwandten wüst – das Publikum wurde aufmerksam, der Bierreisende bekam einen roten Kopf. Der Vorsitzende der Schiedsrichter, ein alter Herr in einem langen Gehrock, erhob sich von seinem Sitz, kam mit steifen Schritten näher und lud die ganze Gesellschaft ein. Die alten Herren freuten sich. Es gab Bratwürste und Rotwein. Der Vorsitzende wurde revolutionär und fluchte auf das Komitee, es habe einen schlechten Kantinenwirt angestellt, der Wein sei sauer … Aber der Wein wurde trotzdem getrunken, das Komitee entfernte sich, die Sänger gingen nach Hause, die Musik verkrümelte sich, es blieb einzig eine Violine übrig. Die stellte sich neben ein Klavier, Fräulein Unger mit dem Eskimogesicht begann zu spielen, die Violine fiel ein und oben auf der Bühne wurde getanzt. Der Vorsitzende der Schiedsrichter verlangte die «Donauwellen», Fräulein Unger konnte sie auswendig, und Elisabeth Varnhagen tanzte den Walzer mit dem Vorsitzenden, der sehr behutsam führte und manchmal aus dem Takt kam, wenn ein Fetzen des am vergangenen Tage fünfzigmal gehörten Marsches plötzlich in seinen Ohren auftauchte …

      Die Geschichte mit den Bratwürsten ist noch nicht fertig. Im Gegenteil, sie schließt das Musikfest ab. Drei Vorstellungen wurden gegeben, der Andrang des Publikums war groß. Es sollte, so beschloss das Komitee, noch eine vierte gegeben werden. Fräulein Varnhagen verlangte für diese vierte eine Gratifikation von fünfzig Franken. Keine große Summe, wird man sagen. Aber das Komitee lehnte ab. Es wird gespielt, verkündigte es durch den Mund des Fahnderwachtmeisters, der als Polizist die Staatsgewalt repräsentierte. Nun war aber Elisabeth Varnhagen in ihrem Recht, denn sie war nur zu drei Vorstellungen verpflichtet. Sie klagte der Truppe ihr Leid. Am meisten regte sich der Arbeiterturnverein auf. Es waren alle zehn große, feste Burschen. Einige konnten boxen, andere waren Schwinger. Nur mit dem Reden haperte es. Aber sie wussten, was Organisation ist. Mit ein wenig Verachtung erklärten sie den klassenunbewussten Geschöpfen, den Studenten, Bureaufräuleins und Ingenieuren, dass es Streiks gäbe … Sie würden einfach alle nicht auftreten, wenn Elisabeth nicht die fünfzig Franken bekäme. Und für alle ein Nachtessen, aber zünftig. Zwei Bratwürste für jeden. Sonst sei nichts zu machen. Der Gott des Handels wurde eine halbe Stunde vor der Vorstellung zum Versicherungsagenten geschickt. So und so, kein Mensch trete auf, wenn nicht schriftlich erklärt werde, dass Fräulein Varnhagen die fünfzig Franken bekäme … Der Dichter Kehrli war mitgegangen. Er vertrat die Interessen des Proletariats und verlangte die Bratwürste. Dies wurde ihm übelgenommen. Er war ein Renegat, und der Wachtmeister Brügger, der hinzugekommen war, hielt mit seiner Meinung nicht zurück. Er werde dem Gemeindepräsidenten schon erzählen, was sein Schreiber für ein Bürschli sei, mit einem hergelaufenen Frauenzimmer karessieren, das könne ihm so passen … Der Dichter Kehrli verbat sich derartige Insinuationen. Aber selbst Fremdworte machen eine verfahrene Sache nicht besser. Kehrli strich die Segel. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er eine Frau erhalten könne ohne die dreihundert Franken, die er als Gemeindeschreiber bekam …

      Die Vorstellung begann. Und in der Lücke, in der berühmten Lücke, während welcher der Tod sonst allein über die Bühne ging, erschien zuerst der Narr und winkte mit gekrümmtem Zeigefinger. Dann erschien der Tod, umgeben von Nymphen und Satyrn. Sie feierten den Tod und streuten ihm Blumen. Die zehn Mann «Industrie» hatten rote Bubengesichter und klatschten in die Hände, während ihre steifen Turnerbeine Bocksprünge versuchten. Das Publikum klatschte und schrie … Zweimal musste der Zug über die Bühne. Der alte Gygli am Dirigentenpult hob den Stab, die Musik brummte einen Tusch, noch einen …

      Nur das Komitee machte nicht mit. Es ist merkwürdig, aber bei Männern sind die vierziger Jahre ein gefährliches Alter. Die Männer sind in diesen Jahren immer beleidigt. Und das Komitee war beleidigt.

      Es wartete bis nach der Vorstellung. Und es sperrte die Bratwürste. Der Arbeiterturnverein regte sich auf, sie hatten Hunger, die zehn Burschen. Sie hatten ihre Abende hergegeben, ihre freie Zeit, sie mussten am Morgen um sieben Uhr in der Fabrik sein, sie hatten Hunger, und ihr Lohn war nicht groß. Nur vier waren gelernte Arbeiter. Aber, wie gesagt, mit der Sprache

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