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berücksichtigte.

      Es zeigt, wie wir das richtige Maß in allen Dingen finden müssen, bei naheliegenden wie dem Essen und der Sexualität und bei weniger beachteten wie dem Umgang mit unserem Ego, dem Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung oder im Gebrauch der Sprache und dem technischen Fortschritt. Es zeigt außerdem, warum ein Leben nach dem richtigen Maß Transzendenz erfordert und warum Toleranz und ihre praktischen ebenso wie ihre spirituellen Grundlagen die Basis und der Anfang von allem sind. »The two most important decisions, that animals make, are what to eat and with whom to affiliate.«

      So viel vorweg: Bei unserer Suche nach dem richtigen Maß können wir uns zunächst an einen in der Evolution zentralen Grundsatz halten: Die beiden wichtigsten Entscheidungen, die Tiere treffen, sind, was sie zu sich nehmen und mit wem sie sich abgeben.

      Das ist bei uns Menschen nicht anders. Was kommt auf den Tisch? Und mit wem sitzen wir dort? Mit wem reproduzieren wir uns? Wem schließen wir uns an und wie organisieren wir uns? Wenn wir auf die Zukunft abzielen, brauchen wir besonders in diesen beiden Uraktivitäten das richtige Maß. Sonst beginnt die Hülle des Raumschiffs Erde zu brechen.

      Der bereits zitierte Philosoph Sloterdijk hat das in seinen vier »soziodynamischen Grundsätzen« so zusammengefasst7:

      Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum und auch aus gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als in absehbarer Zeit durch Recycling-Prozesse je absorbiert werden können. Es werden in den Körpern der Menschen, vor allem der wohlhabenden Hemisphären, aber jetzt auch in anderen Teilen der Welt, ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungs- und Fitnessprogramme wieder abgebaut werden können. Es werden im Gang der sogenannten Liberalisierung zunehmend mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltungen und Fairnessregeln domestiziert werden können. Es werden durch die Ausstrahlung der Bilder des reichen Lebens weltweit mehr Forderungen an Teilhabe an Gütern und Statussymbolen herbeigerufen, als jemals durch nicht kriminelle Formen der Umverteilung befriedigt werden könnten.

      Kurzum, es geht uns »zu gut«.

      Wir essen mehr, als wir brauchen. Wir werden dicker und machen weniger Bewegung, als wir sollten. Wir sind hemmungsloser als je zuvor. Gleichzeitig werden Reiche reicher und Arme ärmer und unsere Gesellschaftsform radiert den Mittelstand aus wie einen unpassenden Teil einer Zeichnung.

      Das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen, um das Raumschiff Erde durch einen Meteoritensturm zu manövrieren. Auf einem der Mutterschiffe des Science-Fiction-Genres, der Enterprise, gäbe es längst roten Alarm. Die Klingonen sind da, die Photonentorpedos sind leer und die Schutzschilde sind unten. Mister Spock, die Kultfigur des Star-Trek-Universums, kratzt sich hinter dem spitzen Ohr. Captain Kirk wird’s schon richten.

      Doch wir sind nicht auf der Enterprise. Das Raumschiff Erde hat keinen souveränen Kapitän. Es gibt kein fertiges Drehbuch und kein Produzent reklamiert ein Happy End in jede Folge. Wir trudeln hinein ins Unbekannte. Und sind dort auf uns selbst zurückgeworfen. Auf unsere innere Wahrnehmung, die als einzige den richtigen Weg kennt und die uns als einzige gleichzeitig zu Schöpfern und zu Teilen einer besseren Welt machen kann.

       Die Folgen der Maßlosigkeit

      Diese Fragen drängen sich auf: Noch nie ist es uns so gut gegangen, aber worauf haben wir uns dafür eingelassen? Das Weltexperiment der Neuzeit, ist es tatsächlich ein globales Gewinnspiel? Haben wir nicht einfach in globaler Einhelligkeit die Maßlosigkeit zum System erhoben? Was bewirkt sie? Der Homo sapiens und sein Bungee-Jump ins Verderben: Hält das Seil oder reißt es? Sind nicht die Explosion des Raumschiffes, der Weltenbrand, das Armageddon die zwangsläufige Folge unseres Handelns und wie konnten wir das bisher einfach ignorieren?

      Für die 15- bis 35-Jährigen ist der Klimaschutz das wichtigste ihrer Anliegen.8 Doch da ist noch viel mehr. Invasive Pflanzen- und Tierarten, die unsere Flora und Fauna zerstören. Die maximale Ausbeutung unserer Böden, dank der Milliarden von Menschen nur noch gesundheitsschädliche Lebensmittel bekommen und Zivilisationskrankheiten pandemische Ausmaße annehmen. Das Plastik, das in der Miniversion des Mikroplastiks, dem Nanoplastik, nicht nur in unsere Körper, sondern auch schon in unsere Gehirne vorgedrungen ist. Und das ist noch immer nicht alles.

      Der Wissenschaftler Niall Ferguson9 fertigte für die Hoover Institution, einen Think-Tank der Eliteuniversität Stanford, eine Zukunftsperspektive an. Sein Resümee lautet folgendermaßen:

      Nach COVID-19 ist wahrscheinlich keine Katastrophe dran, die dem Klimawandel zuzuschreiben wäre, da wir selten die Katastrophe bekommen, die wir erwarten. Vielmehr wird immer irgendeine andere Gefahr schlagend, die den meisten von uns bis dahin entgeht.

      Angenommen, das Raumschiff Erde befindet sich auf einem Kollisionskurs, und wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung. Das Radar zeigt nichts, die Langstreckensensoren geben keine Warnungen ab. Trotzdem ist dort vorne irgendwo ein tonnenschwerer Meteorit.

      Um den Kurs zu korrigieren, brauchen wir prognostische Intelligenz. Wir müssen uns einlassen auf das, was geschehen kann, und gleichzeitig vorbeugen, um es zu verhindern. Der Astronaut fährt mit dem Handschuh über das Steuerelement, gibt ein paar Korrekturen ein, und das Raumschiff fliegt auf neuer Bahn. Vorbei an diesem Meteoriten, der durch die seitlichen Fenster des Cockpits zu sehen ist. Das war knapp, denkt er sich und schließt die Augen.

      Doch wer ist dieser Astronaut, woher nimmt er seine prognostische Intelligenz und woher weiß er, welche Korrekturen er eingeben muss? Sie ahnen es nach dem bisher Gesagten bereits. Der Astronaut sind Sie. Die Astronauten sind wir alle. Wir alle stehen nach dem scheiternden Weltexperiment der Neuzeit vor dem Weltexperiment des richtigen Maßes.

      Bei jenem der Neuzeit haben wir es uns allzu leicht gemacht. Wir haben die Maßlosigkeit einfach als sakrosankt erklärt, sodass wir uns zum Nutzen eines auf Konsum ausgerichteten Wirtschaftssystems gegenseitig darin bestätigen und überbieten konnten. Jetzt müssen wir weg von dieser schrillen Oberfläche zurück in unser Inneres, das gerade wegen des Tohuwabohus der Maßlosigkeit ohnedies zum Sehnsuchtsort vieler Menschen geworden ist. Mit dem, was wir dort als richtiges Maß erkennen, werden wir ganz von selbst und ohne Dogmen und Korsette das Richtige tun und eine neue Gemeinschaft bilden.

       Uraltes Wissen

      Die Kunst des richtigen Maßes und wie wir mit ihr werden, was wir sein können, zieht sich als zentrales philosophisches, spirituelles und teilweise auch als pragmatisches lebensberatendes Thema durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Zu allen Zeiten haben sich Eliten und jene, die ihnen angehören wollten, ihrer bedient, um zu wachsen. Auch jetzt gerade tun sie es, wie das nächste Kapitel zeigen wird.

Die Asketen des Silicon Valley

      Das Silicon Valley ist eine unerschöpfliche Quelle des Übermaßes. Doch seine Macher lassen immer nur die anderen sich daran ergötzen. Sie selbst üben sich gerne im Verzicht, und sie wissen genau, warum.

      In Raumschiff Erde gibt es auch eine Silizium-Abteilung. Dort sind die Zukunftsforscher am Werk. Silizium steht als Element der vierten Hauptgruppe im Periodensystem genau unterhalb des Kohlenstoffs. Diese Position ist interessant, zumal wir Menschen aus Kohlenstoff bestehen. Doch es existiert nicht nur die Kohlenstoff-Intelligenz, die wir Menschen haben, sondern gleich darunter, vielleicht auch parallel dazu oder sogar noch darüber, die silikale, die digitale Intelligenz, hervorgegangen aus Einsen und Nullen.

      Am besten bleiben wir bei »noch darüber«, in Anbetracht dessen, was diese Intelligenz alles kann. Bots, also Computerprogramme, die weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeiten, ohne dabei auf menschliche Benutzer angewiesen zu sein, sind uns in vielen Belangen bereits weit überlegen. Uns Ärzte fasziniert besonders, dass sie etwa Melanome besser diagnostizieren als jeder Dermatologe und für viele Erkrankungen selbständig qualifizierte Therapiepläne vorlegen. Bots helfen etwa auch mit, wenn sich Arbeitssuchende für einen Job bewerben. Sie wählen die richtigen Bewerber aus. Ihre Kriterien

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