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Erst noch eine Tasse dieses schwarzen Gebräus, dann musste ein Plan her. Ein ganz neuer Lebensplan.

      Als Pauline am Nachmittag ihre Wohnungstür aufschloss, konnte sie den unangenehmsten Punkt auf ihrer Liste der unerledigten Dinge abhaken. Der Gang zum Arbeitsamt lag hinter ihr und sie konnte nichts anderes tun, als die Bearbeitung seitens des zuständigen Mitarbeiters abzuwarten. Vermutlich musste sie mit einer Sperre von zwei Monaten bezüglich des Arbeitslosengeldes rechnen. Pauline hoffte, so schnell wie möglich einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Aber Werbeagenturen gab es in Hameln und Umgebung nicht gerade viele.

      Um sich zu beschäftigen, räumte Pauline auf und putzte die Küche. Doch die Arbeit lenkte sie nicht ab. Immer wieder überfiel sie ein Schluchzen, wenn sie an Ralf dachte. Sie hatte ihm blind vertraut, wenn er tagelang in der Weltgeschichte herumflog oder in seiner Wohnung in Frankfurt blieb, weil zu wenig Zeit für eine Fahrt nach Hameln war, bis sein nächster Flug ging. Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können? Eis. Sie brauchte dringend ein Eis. Nach einem Blick in das Eisfach stellte Pauline fest, dass ihr Vorrat aufgebraucht war. Es musste Nachschub her. Nur eine große Portion ihrer Lieblingsspeise würde sie trösten können.

      Wenig später saß sie mit einer Familienpackung Schoko-Karamell-Eis, das durchzogen war von hauchdünnen, knackigen Schichten aus Vollmilchschokolade, am schmalen Küchentisch. Während sie Löffel für Löffel dieser Köstlichkeit in sich hineinschaufelte, öffnete sie ihren Laptop und antwortete auf die Mail ihrer Lektorin. Sie sei gerade dabei, erste Ideen zu Papier zu bringen, und würde das Exposé bald schicken, schrieb sie. Sie bekam Bauchschmerzen bei dieser Flunkerei. Na ja, vielleicht kamen die Bauchschmerzen auch von ihren Sorgen – oder von zu viel Eis.

      Den Rest vom Schoko-Karamell-Eis hatte Pauline ins Eisfach gelegt und die Küche so gründlich geputzt, dass sie sogar vom Fußboden hätte essen können. Ermattet saß sie vor dem Fernseher und zappte durch die Programme, als das Telefon klingelte. Ralf? Wollte er sich entschuldigen? Ihr Herz klopfte plötzlich schneller. Es war jedoch nicht Ralf.

      „Hallo, Jule. Alles klar?“ Pauline begrüßte ihre Freundin aus Schultagen und versuchte, etwas Fröhlichkeit in ihre Stimme zu legen.

      „Überhaupt nichts ist klar.“ Jule stöhnte zum Herzerweichen. „Mir wächst alles über den Kopf. Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll.“

      „Was ist passiert?“

      „In der nächsten Woche fangen in den ersten Bundesländern die Ferien an. Von da an bin ich ausgebucht.“

      „Ist doch bestens.“

      „Eigentlich schon, wenn ich nicht auf meine feste Kraft und eine Aushilfe verzichten müsste. Die Aushilfe musste ich feuern, mehrere Gäste haben sich über sie beschwert. Frau Sörens ist gestern gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Sie fällt für mehrere Wochen aus. O Mann, Pauline. Gerade jetzt!“

      „Das hört sich übel an. Hast du schon nach Ersatz gesucht?“

      Jule seufzte. „Was glaubst du denn? Aber hier ist in Kürze der Teufel los. Da stellen etliche Vermieter und Wirte Aushilfskräfte ein. Ich bin mit meiner Suche verdammt spät dran.“

      „Das konntest du ja vorher nicht wissen.“ Pauline versuchte, Jule aufzumuntern. Ihre Freundin hatte es wirklich nicht leicht. Vor zwei Jahren hatte sie bei einem Segelunfall ihren Mann verloren. Seitdem lag die Verantwortung für die kleine Pension, die die beiden aufgebaut hatten, allein auf ihren Schultern.

      „Ach Pauline, ich vermisse dich so. Wann kommst du mich endlich mal wieder besuchen?“

      „Ja, also …“ Pauline beabsichtigte, Jule ihren eigenen Kummer zu verschweigen. Schließlich hatte die Freundin im Moment genug um die Ohren.

      „Du kannst gern Ralf mitbringen.“

      Musste Jule ausgerechnet damit anfangen? Nach einigen heftigen Schluchzern und Jules drängenden Nachfragen sprudelte es aus Pauline heraus.

      „O verdammt. Dieser Mistkerl“, schimpfte Jule.

      „Ich hab obendrein keinen Job mehr.“ Pauline schniefte. „Und ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll. Es ist einfach zum Heulen. Mein ganzes Leben liegt in Trümmern vor mir.“

      „Nun mal nicht so dramatisch. Heb dir das für deine Romane auf.“

      „Du hast gut reden.“

      „Mensch Pauline! Wieso kommst du nicht zu mir? Genau! Du brauchst Geld und ich eine Arbeitskraft. Das ist doch die ideale Kombination. Was sagst du?“

      Pauline zögerte. „Ja, also … ich weiß nicht, ob ich hier wegkann.“

      „Wieso nicht? Du bist doch ungebunden. In jeder Hinsicht.“

      „Danke, dass du mich daran erinnerst.“

      „Entschuldige. Aber es stimmt doch. Wir könnten endlich mal wieder endlos quatschen.“

      „Das hätte schon was.“ Das musste Pauline zugeben. Sie vermisste die stundenlangen Gespräche von früher. Manchmal hatten sie die ganze Nacht geredet. „Ich muss erst einmal meine Finanzen überprüfen und sehen, ob ich mir die Fahrt überhaupt leisten kann.“

      „Die Fahrt bezahl ich natürlich. Schließlich kommst du, weil du bei mir arbeiten wirst.“

      „Nee, Jule. Das kann ich nicht annehmen.“ Pauline nagte ratlos an ihrer Unterlippe.

      „Natürlich kannst du.“

      Konnte sie das wirklich? So einfach nach Amrum fahren und dort arbeiten? Das musste sie erst mit dem Arbeitsamt klären. Schön wäre es schon. Jule endlich wiederzusehen, Strandspaziergänge, Wind und Wellen und vor allen Dingen, von hier wegzukommen.

      „Ich sehe schrecklich aus …“

      „Dann geh zur Kosmetikerin oder zum Friseur. Tu dir was Gutes.“

      „Muss sparen.“

      „Papperlapapp. Sieh es als Investition in einen Neuanfang.“

      „Ich weiß nicht. Außerdem muss ich schreiben.“

      „Du würdest mich mit deinem Besuch wirklich retten. Ehrlich Pauline. Schreiben kannst du übrigens auch hier.“

      „Meinst du wirklich?“

      „Natürlich. Ich beute dich nicht aus, keine Angst. Du wirst genug Zeit für dich haben.“

      „Okay, Jule.“ Pauline gab sich einen Ruck. „Danke für deinen tollen Vorschlag. Ich werde mit dem Arbeitsamt klären, ob es in der Hinsicht Probleme gibt. Wenn nicht, dann nehme ich dein Angebot an.“

      „Na siehst du. Geht doch. O Pauline, ich freu mich so auf dich. Wir werden eine tolle Zeit haben. Wirst schon sehen.“

      2. Kapitel

      Drei Tage später stand Pauline an der Reling der Fähre, die sie von Dagebüll nach Amrum brachte. Gut fünfeinhalb Stunden Bahnfahrt und fast eineinhalb Stunden auf dem Schiff lagen hinter ihr. Das Schiff hatte bereits die Nachbarinsel Föhr passiert, die rechts der Fahrrinne lag. Wenn Pauline nach links blickte, konnte sie am Horizont die kleinen Erhebungen der Halligen erkennen. Vor ihr kam die Silhouette ihres Ziels langsam näher. Die Fähre steuerte schon die Hafeneinfahrt von Wittdün an. Obwohl ein heftiger Wind wehte und die Sonne nur ab und an zwischen dicken weißgrauen Wolken hervorlugte, hatte Pauline die ganze Zeit an Deck verbracht. Tief sog sie die salzige Meeresluft ein. Herrlich, wie gut das tat. Es machte ihr nichts aus, wenn ihr der Nordseewind um die Nase wehte und die Frisur zerzauste. Unwillkürlich griff sie sich an den Kopf und stutzte. Sie hatte Jules Rat befolgt und sich eine neue Frisur gegönnt. Nicht einen Moment hatte sie den langen Strähnen nachgeweint, die sich mit jedem „Schnipp“ mehr und mehr auf den Boden rund um den Friseurstuhl häuften. Mit jedem Schnitt, mit jeder fallenden Strähne fiel ein Stück Vergangenheit – ein Stück Ralf – von ihr ab. Das hatte sie jedenfalls in diesem Augenblick geglaubt. Leider hielt dieses Gefühl nicht lange an. Zwar hatte die Friseurin ihr einen flotten Kurzhaarschnitt verpasst, mit dem sich

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