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nicht deutlich genug hervorheben: Auch die durch Peer-Reviews, Impact-Faktoren und Rankings geregelten Evidenzbelege sind das Ergebnis einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Auch in ihr teilt sich uns Wirklichkeit lediglich zu unseren Bedingungen und Verfahren bzw. denen der jeweiligen Zunft mit, d. h. in der Form, wie sie auf uns zu wirken vermag. Was nicht zur Veröffentlichung gelangt, ist nicht per se ungeeignet, es wird aber kaum wahrgenommen und entfaltet deshalb auch weniger Wirkung. Wo Studien hingegen zugänglich sind, eine breite Zustimmung auslösen, Überprüfungen standhalten und sinnvolleres Handeln begründen, kann – zumindest vorläufig – davon ausgegangen werden, dass das gezeichnete Bild mehr oder weniger zutrifft – nicht im Sinne des Abbilds einer externen Wirklichkeit, wohl aber als vorübergehende gemeinsame Basis eines funktionierenden bzw. sozial akzeptierten Handelns. Als wie fragil diese Basis sich erweisen kann, zeigen u. a. die Debatten um den 2006 vom ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore produzierten Film »Eine unbequeme Wahrheit«. Letztlich kann auch Al Gore nur scientometrisch bzw. bibliometrisch argumentieren, indem er z. B. nüchtern darauf verweist, dass die menschengemachte Erderwärmung über die Jahre von zunehmend weniger Studien in Zweifel gezogen wird (vgl. Beck 2010). Die unmittelbare Evidenz seiner eigenen Belege reicht nicht aus, er muss diese noch durch mittelbare Evidenzbelege unterfüttern. Die Klimaerwärmung mag zwar evident sein, ihre Evidenz wird aber erst zu einer Tatsache, wenn sie auch sozial geteilt wird – ein Unterschied, der oft gerne übersehen und gegen die konstruktivistischen Erkenntnistheorien in Stellung gebracht wird. So übersehen z. B. die nicht enden wollenden Polemiken gegen das systemisch-konstruktivistische Weltbild in der Pädagogik: Evidenz ist Wahrheitsähnlichkeit, d. h. die – augenblicklich – am besten begründete Form der Schlussfolgerung, aber eben nicht die Wahrheit selbst, wie ein Blick in die Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer zeigt (vgl. Zankl 2004). Zur – vorübergehenden – Wahrheit wird sie erst, wenn soziale Akzeptanz hinzutritt.

      Evident ist das, was uns und signifikanten Anderen begründet der Fall zu sein scheint. Dass auch andere einen Sachverhalt so beurteilen, wie wir dies tun, lässt uns sicherer werden – allerdings nicht immer zu Recht, wie wir aus den zahlreichen Paradigmenwechseln in der Geschichte der Wissenschaft wissen. Manche Wissenschaftler machen es sich deshalb zu leicht, wenn sie Evidenz mit Wahrheit verwechseln und alle diejenigen der Unvernunft schmähen, die sich in dieser Frage behutsamer und voller Zweifel bewegen. So melden sich Materialisten und sogenannte »neue Realisten« mit ähnlichen Argumentationen zu Wort. Dabei halten beide unisono an der Illusion der sicheren Erkennbarkeit der Welt fest – wie anders könnten sie behaupten, was sie behaupten? Und dass es sich um Behauptungen, genauer gesagt: um trotzige Behauptungen, handelt, wird bei einem der Wortführer des Neuen Realismus, dem Bonner Philosophen Markus Gabriel, deutlich, wenn er es anstelle eines Arguments einfach bei der Feststellung belässt: »Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen« (Gabriel 2013, S. 13).

      Auch in den pädagogischen Debatten tummeln sich Realisten oder – noch extremer – Materialisten. Für die materialistischen Bildungstheorien stand am Anfang die Gamm’sche Rehabilitierung des realistischen Denkens als ein »radikaler Rationalismus«, d. h. eine Erkenntnisform, »die unbeirrbar an der vollen Diesseitigkeit der Welt festhält« und auch dem Anspruch verpflichtet bleibt, »zum Emanzipationsprozess der Gattung anzuleiten« (Gamm 1983, S. 21 und 69). Diese Haltung setzt eine Unerschütterlichkeit im Wissen voraus, die nach den neueren Denk- und Wahrnehmungstheorien eigentlich nicht zu haben ist. Vielmehr stärken diese in uns den Eindruck, dass auch unser eigenes Nachdenken nur zu denken vermag, was in uns als Möglichkeit angebahnt ist – und es somit keinen Weg gibt, um tatsächlich zu gewährleisten, was materialistische Bildungstheorien beständig versprechen, nämlich »dass ein Nervensystem Informationen aufnimmt und daraus Repräsentationen (also: interne Abbilder) seiner jeweiligen Umwelt erstellt« (Pongratz 2010, S. 284), wobei so getan wird, als seien diese Abbilder irgendwie exakte Wiedergaben einer im Außen so und nicht anders gegebenen Wirklichkeit. Unnötig zu betonen, dass dieser naive Realismus selbst in den Naturwissenschaften wenig Freunde hat, wie bereits die erkenntnistheoretischen Arbeiten aus dem Umkreis der Physik zeigten. So befasste sich der theoretische Physiker David Bohm in seinem auf Deutsch unter dem Titel »Der Dialog« erschienenen Werk auch mit dem unauflösbaren Wechselverhältnis zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten und stellte fest:

      »Normalerweise erkennen wir nicht, dass unsere Annahmen die Natur unserer Beobachtungen beeinflussen. Aber die Annahmen beeinflussen die Art, wie wir die Dinge sehen, wie wir sie erfahren und infolgedessen das, was wir tun wollen. In gewisser Weise sehen wir durch unsere Annahmen. […] [D]er Beobachter ist das Beobachtete. Wenn wir die beiden nicht zusammensehen, den Beobachter und das Beobachtete bzw. die Annahmen und die Emotionen, erhalten wir ein völlig falsches Bild. Wenn ich sage, ich will sehen, was in meinem Geist vorgeht, aber meine Annahmen nicht mitbedenke, bekomme ich ein falsches Bild, weil die Annahmen es sind, die beobachten.« (Bohm 2011, S. 134 und 135 f.)

      Deshalb müsste die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung sich auch viel stärker von der Sache selbst weg und zum Beobachter und seinen Annahmen hin bewegen. Dann fällt einem zwar auf, dass die »Möglichkeit einer angemessenen Auffassung der Umwelt« (Pongratz 2010, S. 284) von Materialisten und Realisten lediglich behauptet, jedoch nicht belegt werden kann. Die Frage, um die es aber eigentlich geht, bleibt hingegen ausgeklammert: die Frage nach den Hintergrundannahmen eines vermeintlich einer objektiven Daseinslogik nachspürenden Denkens und des sich in diesem ausdrückenden Fundamentalismus. Nur dieser erklärt auch die destruktive und bisweilen polemisierende Kraft, mit der Einzelne sich in den Streit um die Wirklichkeit werfen. Es geht dabei um Rechthaben und Bewerten, weniger um Klärung. Eine selbsteinschließende Beobachtung des eigenen Gewissheitsaufbaus oder gar den tastenden Versuch, die dabei wirksamen Annahmen zu reflektieren oder womöglich zurückzunehmen und sich einer Pluralität der wissenschaftlichen Weltsichten zu öffnen, erwartet man vergebens. Materialisten wie Realisten meinen, über stringente und universal gültige Formen des Erkennens zu verfügen, sie klammern den bloßen Annahmecharakter ihrer eigenen Formen des Beobachtens, Wahrnehmens und Bewertens aus und zeihen andere der Unvernunft.

      Nur so ist zu erklären, dass Ludwig Pongratz, einer ihrer eiferndsten Vertreter, in seinem nicht enden wollenden Kampf gegen systemisch-konstruktivistische Denkansätze sich immer und immer wieder auf die insgesamt eher belanglose Dissertation von Ralf Nüse bezieht, der glaubte, das erkenntnistheoretische Programm des Konstruktivismus (vgl. von Glasersfeld 1996) mit dem lapidaren Hinweis ad acta legen zu können, dass, »wenn man keinen Zugang zur Umgebung hat, man (dann) auch nicht feststellen (kann), dass man keinen hat« (Nüse 1995, S. 251). Dieser Hinweis ist nicht substanziell, er gilt auch umgekehrt: Wer annimmt, dass sein Gehirn ihm zutreffende Abbilder von der Wirklichkeit zu erzeugen vermag, der vermag auch nicht zu (be)denken, dass er gar keinen Bezug zu derselben aufzunehmen vermag. Er ist letztlich nicht zu einem selbstreflexiven Umgang mit Evidenzen in der Lage, ihm entgeht deren letztlich soziale Konstruktion ebenso wie ihre emotionale Verankerung im Set mitgebrachter und eingespurter Vorstellungen. Damit ist er dann auch nicht in der Lage, sich ein anderes Bild von der Wirklichkeit zu machen als das, welches er schon immer annahm. Materialisten und Neorealisten können sich ebenso wenig mit der Koevolution weitgehend mit sich selbst befasster Gehirne adäquat auseinandersetzen, da sie deren Verhältnis als zueinander geöffneter annehmen, als es – nach allem, was uns die sozial konstruierten Evidenzen zeigen – zu sein scheint. In ihrer fundamentalistischen Wende beraubt sich die materialistische Bildungstheorie zudem gerade eines wesentlichen Elements ihrer eigenen Ursprungsprogrammatik, nämlich der Möglichkeit zum Entwurf einer Wirklichkeit, die anderen als den angenommenen Mechanismen Ausdruck zu verschaffen mag.

      Die Irrealität der Evidenz anzuerkennen, bedeutet keineswegs, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen. Evidenzen sind so lange anerkannt, als sie viable, d. h. gangbare, Wege eröffnen, wobei die Kriterien zur Bemessung der Gangbarkeit historisch variabler sind, als ursprünglich vermutet. Ein Blick in die Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer zeigt dies überdeutlich (vgl. Zankl 2003, 2004). Dies gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für Geistes- und Sozialwissenschaften, deren Gegenstände zudem einer mathematisierten Beobachtung unzugänglicher sind, weil sie sich durch Tradition und Deutung konstituieren – eine Logik, von

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