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      Abb. 2: Von der Didaktik erster Ordnung zur Didaktik dritter Ordnung

      In fast allen Bereichen unseres Bildungswesens wird den Inhalten und dem Lehren de facto vorrangig Rechnung getragen. Diese Konzepte sind inputorientiert und verfügen erst ansatzweise über Zugänge zu einer outcomeorientierten Begründung der Kompetenzentwicklung. Dieser Zustand wird sich auch und gerade angesichts der Wandlungen des Wissens in den postmodernen Gesellschaften und der Zunahme der (bildungs-)technologischen Speicher-, Abruf- und Darstellungs- sowie Umgangsmöglichkeiten (vgl. Nowotny/Scott/Gibbson 2001) grundlegend verändern (müssen), wollen wir nicht mit den inhaltsbasierten Lernkonzepten der Vergangenheit die inhaltsfluide Zukunft zu gestalten versuchen – was ebenso abwegig anmuten muss wie der Versuch, in einer Kutsche globalen Handel zu betreiben.

      Unsere Bildungseinrichtungen sind von diesem Ideal einer kompetenzbildenden Kultur des selbstorganisierten Lernens noch weit entfernt. In ihrer neuesten Veröffentlichung »Stoppt die Kompetenzkatastrophe« stellen John Erpenbeck und Werner Sauter im Blick auf die universitäre Tradition des Zeigens und Belehrens pointiert fest:

      »Guten Hochschullehrern, verantwortungsvollen Wissenschaftlern ist allemal klar, dass ihre Vorlesungen, vor 200, 300 Studenten gehalten, zwar neuestes für den Fachmann brisantes Wissen darbieten können, dass aber nur Bruchteile davon behalten werden und noch viel weniger handlungswirksam wird. Vorlesungen sind in der Regel sinnlos, weil sie nur Wissen an sich, aber kaum Wissen für uns liefern.« (Erpenbeck/Sauter 2016, S. 12)

      Nun mag diese Einschätzung zugespitzt und im Einzelfall unzutreffend sein, aber ist sie falsch? Tun wir wirklich genug, um

      •die Lernenden in ihren Lebenswelten und biografischen Lernprojekten anzusprechen,

      •Inside-out-Prozesse der Selbstbildung zu ermöglichen,

      •die Selbstlern- und Selbstführungskompetenzen der Lernenden gezielt zu fördern und

      •ihnen in geeigneten Lernarrangements Angebote eines angeleiteten Selbstlernens zu offerieren, wie es für die Fernuniversitäten, die E-Learning-Formen oder die erfahrungsorientierten Ansätze der Erwachsenendidaktik seit Jahren gang und gäbe ist?

      Zwar hat sich die Prophezeiung von Bill Gates aus dem Jahre 2010, der zufolge man in fünf Jahren »die besten Vorlesungen der Welt kostenlos im Netz finden« werde und dies »besser als jede einzelne Hochschule sei«[2] – noch? – nicht bewahrheitet. Doch kann man daraus automatisch einen Bestandsschutz des Bisherigen folgern? Stephan Weichert, Professor für Journalismus in Hamburg, tut dies in pauschalisierender Argumentation:

      »Weder sind die besten Vorlesungen der Welt kostenlos im Netz zu finden, noch sind die meisten Angebote nachhaltig. Unsere ungeliebten Unis aus Waschbeton und Linoleum gibt es nach wie vor in der Welt der Dinge. Auch die Präsenzlehre ist nicht verschwunden, vielleicht weil die Sache mit dem betreuenden Professor, der an der Atlantikküste Wein trinkt, einfach zu schön ist, um wahr zu sein.« (Weichert 2016)[3]

      Wenn es stimmt, dass Wissen und Kompetenzen nicht vermittelt, sondern von jeder oder jedem Lernenden bloß selbstständig angeeignet und entwickelt werden können – sämtliche namhaften Hirnforscher rufen dies mittlerweile der Pädagogik nachdrücklich, aber ohne Resonanz ins Gedächtnis (u. a. Roth/Lück 2010) –, dann können wir auch in den Schulen, Hochschulen und Universitäten nicht so weitermachen wie bisher. Dringend muss das lernende Individuum wieder in das Zentrum seiner Kompetenzentwicklung gerückt werden, wo es z. B. die Erwachsenenpädagogik seit jeher verortet hat. Seit den 1980er-Jahren folgt die Erwachsenendidaktik dieser Linie, indem sie das Lernen im Modus der Auslegung, als Suchbewegung auf dem Weg zur Identität und Kompetenz und als Transformation von Alltagswissen sowie einer Expansion bzw. Stärkung von Ich-Kräften systematisch erforscht, begleitet und theoriebildend beschreibt. Dabei folgt sie einer intransitiven Pädagogik, wie sie von den allermeisten, die sich bildungspolitisch artikulieren und z. B. Mut, Durchgreifen und Konsequenz im Klassenraum fordern, noch nicht einmal im Ansatz verstanden worden ist. Dies verwundert auch nicht, sind wir doch durch unseren transitiven Sprachgebrauch zu einem Begreifen genötigt, das nur das zu fassen vermag, was unsere Begriffe hergeben:

      »Betrachten wir den Bildungsbegriff selbst nun genauer. Das dazugehörige Verb heißt bilden und ist ein transitives Verb. Es bezieht sich also auf ein Akkusativobjekt. Verbum transitivum heißt: ›Verb, das (in ein Objekt) übergeht‹ (Kluge). Bildend ist eine Person, deren Tätigkeit, das Bilden, ›übergeht‹ in ein Objekt, die also eine andere Person bildet. Das entspricht gängigem pädagogischem Denken. Wenn von Jugendbildung, Erwachsenenbildung, Lehrerbildung usw. gesprochen wird, dann sind damit normalerweise die Tätigkeiten von Personen gemeint, die als Bildner andere Personen (Jugendliche, Erwachsene, angehende Lehrer/innen) bilden. Dieser Bildungsbegriff ist in seiner konsequenten Fassung ein technischer, ein Bearbeitungsbegriff. Als solcher wird er im 18. Jahrhundert zunächst in der Aufklärungspädagogik gebraucht, die sich die Formung des Menschen zum (möglichst vollkommenen) Menschen und zum (möglichst brauchbaren) Bürger zur Aufgabe machte.« (Sesink 2006, S. 17)

      Demgegenüber wird in den letzten Jahren durch die Ergebnisse der systemischen sowie der Hirn- und Lernforschung ein intransitives Verständnis der Lern- und Bildungsprozesse angebahnt, das die Autonomie des lernenden Individuums, d. h. die prinzipielle Selbstorganisation seiner Auseinandersetzung mit neuen Anforderungen und bei der Entwicklung seiner Kompetenzen stärkt. Dieses Verständnis folgt keiner Vermittlungs- oder Belehrungslogik, sondern den individuell jeweils spezifischen Mustern der Aneignung. Bei diesem Versuch, Lernen und Kompetenzentwicklung stärker orientiert an den Lernenden zu begründen und zu gestalten, ist ein präziserer Wissensbegriff erforderlich, als ihn die pauschale Rede vom Zeigen oder Eröffnen des Wissens gegenüber den Nachwachsenden nahelegt (vgl. Türcke 2016). Nicht alles, was es gibt, ist für diese von kompetenzbildender Relevanz für ihre Zukunft in den unterschiedlichen Domänen und Ausbildungsgängen! Und:

      Man kann viel wissen und nichts können (vgl. Arnold/Erpenbeck 2014), und der Mensch – das lernfähige Tier – kann auch mit den Jahren lernen, nicht mehr lernen zu können. Dann erlahmt sein ursprüngliches Neugierverhalten, und seine Fähigkeiten, sich selbst und die Welt aktiv zu erforschen, kreativ Neues zu erproben und über Bisheriges hinauszuwachsen, werden verschüttet.

      Dass man die modernen Gesellschaften gerne als Wissensgesellschaften bezeichnet, bedeutet keineswegs, dass Einigkeit darüber bestünde, was dieses Wissen sei und wie sich die Gehalte des Wissens über die Jahre verändert hätten und veränderten. Wissen begegnet uns als äußere Maßgabe und auch Zumutung. Es tritt uns gegenüber. In ihm bündelt sich die Fülle der Einsichten und Lesarten zu den Sachverhalten, mit denen wir es als Menschen zu tun haben. Diese Beschreibungen haben eine Diskursgeschichte. Sie wurden geprüft, erprobt, abgewandelt und verfeinert oder verworfen – auf alle Fälle kommen sie mit einer Kraft des Faktischen daher, die kaum noch zur Diskussion steht. Diese »sicheren« Wissensbestände markieren das, was wir überliefern und mit den Nachwachsenden und Novizinnen und Novizen teilen.

      Kulturen und Gesellschaften unterscheiden sich darin, wie sie die Sicherheit ihrer Wissensbasis legitimieren und in welcher Weise sie den Streit um die Gültigkeit von Erkenntnissen und Argumenten regeln. Letztlich sind Wissensgesellschaften »offene Gesellschaften« im Sinne Karl Poppers. Sie sind getragen von einer Diskurspraxis,

      »die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden« (Popper 1957, S. 267).

      Dieser Anspruch fordert äußere und innere Offenheit. Er ist im Kern demokratisch, setzt aber auch auf die innere Offenheit der Akteurinnen und Akteure gegenüber Infragestellungen und neuen Erklärungen. An die Stelle totalitärer Geltungsregeln und Unterordnung treten das wissenschaftliche Denken und die Institutionalisierung der Kritik. Ohne die äußere – staatlich garantierte – Offenheit hat es die innere Offenheit schwer, sich zu entwickeln und sich an den Gegebenheiten zu orientieren. Wo Gewohnheiten, Meinungen oder gar fundamentalistische Glaubenssätze bestimmen wollen, was gilt, bleibt nicht nur der

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