Скачать книгу

bald komplett vergessen. Als ich nach meiner Rückkehr den Film sah, war ich verblüfft und begeistert. Ich musste wirklich darüber nachdenken, wann und wo ich dieses Bild gemacht hatte. Unbewusst, getragen von meiner Erfahrung und meinem Instinkt, hatten sich in diesem Moment die Kraft und die Magie der Landschaft auf dem Film verewigt.

      Die Aufnahme vom Lake Louise habe ich mit meiner 4 × 5-Fachkamera und einem 150-mm-Objektiv gemacht (das entspricht 45 mm im Kleinbildformat). Weil ich einen niedrigempfindlichen Film verwendet und die Blende weit geschlossen hatte und es ziemlich dunkel war, lag die Belichtungszeit bei etwa zwei Minuten. Von den erwähnten zwei Aufnahmen war eine ein Querformat, die andere ein Hochformat. Die querformatige Variante sieht fast genauso aus wie die hochformatige, aber die Steine im Vordergrund fehlen. Meist finde ich Gefallen daran, Andeutungen und Hinweise auf die Tiefe einer Szene oder auf Größenverhältnisse aus meinen Aufnahmen zu entfernen, und die Querformat-Variante spiegelt meine normale Herangehensweise wider. Aber das Hochformat bringt die Tiefe besser zur Geltung, und irgendwie ist diese Aufnahme dank des dezenten Hinweises auf die Größenverhältnisse um eine wichtige Dimension reicher. Weil die Steine im Vordergrund von Wasser bedeckt sind und durch die lange Verschlusszeit ein bisschen verwaschen erscheinen, bilden sie ein geheimnisvolles kleines Gegengewicht im Bild.

      Ich hatte eine Vorstellung davon, was ich an jenem Morgen am Lake Louise fotografieren wollte, aber als es sich nicht ergab, hatte ich nicht das Gefühl, dennoch unbedingt Aufnahmen machen zu müssen. Stattdessen legte mir die Landschaft einen anderen Vorschlag zu Füßen. Will man ein Bildkonzept mit Gewalt auf den Film bannen, kann es passieren, dass die Kreativität verloren geht. Ich musste kein Bild machen und habe deshalb eines gefunden. Diese Lektion hat der Fotograf Minor White in meinem Lieblingszitat von ihm schön zusammengefasst: »Sei still bei Dir selbst, bis das Objekt Deiner Aufmerksamkeit Deine Anwesenheit bestätigt.«

      Also: Warten Sie, beobachten Sie, entspannen Sie sich. Es sind die magischen Aufeinandertreffen von Licht und Land und Kamera, zu denen wir wieder und wieder zurückkehren.

image

      Sunrise on the Hana Coast (Sonnenaufgang an der Küste von Hana) | Koki Beach, Insel Maui, Hawaii | 1994

      WAS GUTE LANDSCHAFTSAUFNAHMEN AUSMACHT

      MEINE WICHTIGSTEN ERFOLGSFAKTOREN FÜR GELUNGENE FOTOS

      Welche essenziellen Bestandteile hat eine gelungene Landschaftsaufnahme? Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich einen Online-Kurs für Landschaftsfotografie entwarf, der Fotografen dabei helfen sollte, ihre Aufnahmen zu verbessern. Einige wesentliche Elemente spielen in jedem ausdrucksstarken Foto eine Rolle:

      •Außergewöhnliches Licht

      •Begeisternde, dynamische Bildgestaltung

      •Emotionaler Inhalt, der den Betrachter anspricht

      All diese Faktoren dienen dem Zweck, das Motiv zu beleuchten und die Absicht des Fotografen zu verdeutlichen. Im vorliegenden Buch möchte ich mithilfe von Texten und Bildern diese Grundlagen erläutern und zugleich ihre fundamentale Bedeutung betonen.

      Licht ist die wichtigste Zutat der meisten herausragenden Bilder. Dramatische Lichtstimmungen wie Regenbögen oder durch Wolkenlücken fallende Sonnenstrahlen verleihen einem Bild zusätzliche Spannung. Das weiche Licht eines verregneten Tages kann kleinste Details betonen und die gesättigten Farben einer Szene verstärken. Oft legen mir meine Schüler Bilder von den schönsten Orten vor, die bei gewöhnlichem Licht fotografiert wurden. Wenn man einmal einen Bildaufbau gefunden hat, der funktioniert, liegt es am Licht, ihn zum Klingen zu bringen. In diesem Moment ist nicht mehr nur die Fähigkeit gefragt, ein Bild korrekt belichten zu können; genauso muss man warten können, immer wieder zurückkehren, vorausberechnen und planen.

      Mit seiner Bildgestaltung legt der Fotograf die Grundlage dafür, was der Betrachter wahrnimmt. Ob es nun ein dezidiert grafisches Design ist, schlicht oder komplex: Letztendlich sollte es dem Betrachter dabei helfen, das Bild zu verstehen, als Inspiration dienen oder sogar Fragen aufwerfen. Für eine gute Bildgestaltung muss der Fotograf die Relation von Linien, Umrissen und Formen beachten, die Proportionen und Größenverhältnisse einzelner Objekte berücksichtigen und vor allem festlegen, was Bestandteil des Bildausschnitts sein soll und was nicht. Es ist entscheidend, ein Gespür dafür zu entwickeln, gerade genug Information in ein Bild zu packen, ohne Verwirrung zu stiften oder abzulenken.

      Gefühl und Leidenschaft sind die abschließenden, essenziellen Bestandteile eines ausdrucksstarken Fotos und in der Umsetzung am schwierigsten. Selbst wenn großartiges Licht und eine exzellente Bildgestaltung aufeinandertreffen, wird dies nur selten ein Foto nach sich ziehen, das alle fundamentalen Bedingungen gleichermaßen erfüllt. Aber wenn wir uns kontinuierlich mit unseren Lieblingsmotiven auseinandersetzen und unser Verständnis davon weiterentwickeln und wenn wir uns in jene Orte vertiefen, die uns inspirieren, dann werden daraus unsere besten Aufnahmen entstehen.

      Ein Beispiel: Eines meiner übergeordneten Themen habe ich »Landscapes of the Spirit« genannt. So heißt auch der Bildband mit meinen Lieblingsaufnahmen, und ich erweitere diese Sammlung nach wie vor um neue Fotos. Auch das Bild von Hawaii, das dieses Kapitel einleitet, hat dort seinen Platz. Das Licht war bemerkenswert – es war der röteste Sonnenaufgang, den ich je gesehen habe. Ich musste die Farbsättigung sogar etwas zurücknehmen, weil sie alles andere überlagerte. Für mein Gefühl ist die Bildkomposition gut ausbalanciert und auf schlichte Weise elegant.

      Was die Gefühlsebene angeht, kann ich nur für mich selbst sprechen. Das Bild trägt mich wieder in diesen Moment zurück, in dem ich in der Brandung stand und zusah, wie das Licht der frühen Morgendämmerung zu strahlen begann und die Wolken anleuchtete, deren Farbe sich wiederum im Wasser spiegelte. Die Langzeitbelichtung – mehrere Minuten, wenn ich mich recht entsinne – glättete die bewegte Brandung und schuf eine Wasserfarbenpalette aus Rottönen.

      Vor einigen Jahren weilte ich am Memorial-Day-Wochenende [4] bei einer Familienfeier im kalifornischen Carmel. Natürlich hatte ich meine Kamera dabei, auch wenn ich nicht auf ausgedehnte Fototouren eingestellt war. Ein paar Ausflüge zu Sonnenauf- und Sonnenuntergang ergaben sich aber doch, bei denen ich einige meiner Lieblingsplätze im nahegelegenen Big Sur besuchte und auch eine Handvoll neuer Orte erkundete. Seit drei Jahrzehnten mache ich Aufnahmen in Big Sur, und ich bin ein leidenschaftlicher Verehrer der außergewöhnlichen Kraft und Schönheit dieser Landschaft. Die Ergebnisse, die ich mit minimalem Aufwand erzielte, stimmten mich derartig zufrieden, dass ich darüber nachzudenken begann, warum ich wohl auf dieser Reise so viel Glück hatte.

image

      Two Rocks and Surf (Zwei Felsen in der Brandung) | Garrapata State Park, Big Sur, Kalifornien | 2008

      Zusätzlich zu den genannten drei Kernelementen profitieren erfolgreiche Landschaftsbilder von weiteren Aspekten. Dabei gehe ich davon aus, dass die offensichtlichen technischen Kriterien wie Schärfe, Belichtung und Bildgestaltung bereits berücksichtigt worden sind.

      VERTRAUTHEIT

      Wenn Sie einen Ort oft aufsuchen, lernen Sie ihn immer besser kennen und eignen sich wertvolles Wissen über Lichtverhältnisse und Wettersituationen an. Sie bringen in Erfahrung, welche Art von Licht sich für welche Landschaften am besten eignet. Sie versuchen sich an unterschiedlichen Bildkompositionen oder kehren vielleicht zu Ihren Favoriten zurück, in der Hoffnung auf das »perfekte Unwetter«, wenn Licht und Wolken und Bildgestaltung zusammentreffen. Ein solcher Ort verleiht Ihrem Portfolio Tiefe. Für die Gegend um Monterey und Big Sur habe ich eine Art Katalog im Kopf mit vielen solchen Plätzen: welche Art von Landschaft für dichten Nebel am besten geeignet ist, wo sich bei klarem Himmel größere Möglichkeiten ergeben und so weiter.

      EXPERIMENTIERFREUDE

      Haben Sie schon mal einen Ort so häufig besucht, dass Sie das Gefühl hatten, wieder und wieder »das gleiche« Bild zu machen? Ich glaube, das geht uns allen so.

Скачать книгу