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die Ausnahme des Unglaubens): Denn die Reichweite, die die „Lieblingsformel Luthers“ (simul iustus et peccator, gerechtfertigt und Sünder/in zugleich) abschreitet, ist die umfassendste und widersprüchlichste, die es gibt (vgl. Pesch, 190ff.; Fuchs 2016, 13-98).

      Die Formel Luthers umfasst die äußerst möglichen Extreme geschöpflicher Existenz, nicht nur zwischen Geschöpf und Schöpfer, sondern zwischen sündigem Menschen und heiligem Gott. „Sünde (ist) gleichsam der Riss durch das Sein, weil Sünde als Gottlosigkeit die Negation der Lebensmöglichkeit ist und damit schlechterdings die Lebensunmöglichkeit“ (Schneider-Flume, 26).

      Gott setzt keine Bedingung für die rechtfertigende Gnade, etwa dass der Mensch nicht mehr Sünder/in sei. Gottes Rechtfertigung kann damit gar nicht anders als durch und durch bedingungslos aufgefasst werden. Sie ist unendlich „inklusiv“.

      Im Fahrwasser dieser extremsten Heterogenität umfasst Gottes Inklusivität selbstverständlich alle andere Vielfalt, alle Diversität der Welt, die mit der Kategorie der Sünde-Heil-Dramatik weniger bis nichts zu tun haben. Hier kommt die schier unerschöpfliche Vielfalt der Schöpfung selbst zum Ausdruck, eine Kreativität, die sich auch in der faszinierenden Kreativität der Menschen widerspiegelt: in den Sprachen und Kulturen, in der Kunst, in der Literatur, in der Architektur, im Handwerk (ein Blick in ein Schmuck- oder Schuhgeschäft vermittelt eindrucksvoll diese permanente Phantasie an Neuschöpfungen von Formen und Kombinationen).

       Ottmar Fuchs

      Dr. theol. habil., Prof. em. für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

      Deshalb verfängt, theologisch gesehen, die Strategie überhaupt nicht, Andere, um sie mit moralisierenden Argumenten exkludieren zu können, als schlecht oder böse hinzustellen, weil Gott auch das Schlechte nicht zum Anlass von Exklusion macht. Mit „Gott“ kann hier jedenfalls nicht operiert werden.

       VERSCHÄRFTER – UNENDLICHE VERSÖHNUNG

      Der Glaube an einen die Menschen im paulinischen und lutherischen Sinn rechtfertigenden Gott hält die Grenzziehung zwischen Opfer- und Täteranteilen in und zwischen den Menschen kompromisslos aufrecht, auch und gerade wenn das Datum der Rechtfertigungstheologie gilt, dass auch die Schlimmsten niemals aus der Gnade herausfallen. Auch ihnen wird kein aus der Liebe exkludierendes sinnloses Strafleiden zugefügt. Dies geschieht aber nicht so, als ob nichts geschehen wäre.

      Welche Auswirkungen im Jüngsten Gericht die unblockierte Erfahrung der „visio dei“, der unerschöpflichen Freiheit und Liebe in Gott auf die Menschen mit ihren gegensätzlichen Biographien zwischen Gut und Böse haben wird, diese Resonanz angesichts der Menschen, denen Leid zugefügt wurde bzw. die sich gegen Armut und Ungerechtigkeit eingesetzt haben, wird sich zwischen Schmerz und Freude ereignen. Doch sind alle diese Bilder in das unbegreifliche Geheimnis Gottes selbst abzugeben, mit der unzugriffigen Hoffnung, dass die „Richtung“ stimmt.

      Der Begriff des Gerichtes kann zwar nicht ohne dualistische Vorstellungen zwischen Gut und Böse auskommen. Doch sind dualistische Welteinteilungen immer heikel, wenn sie nicht im Dienst einer ganz bestimmten Entdualisierung stehen, welche das Gute und Üble unbestechlich überall aufzuspüren vermag: nämlich der Entdualisierung zwischen innen und außen als gut und schlecht, der Entdualisierung der Diakonie, die sich universal verausgabt und nicht die Hilfsbedürftigen in der Hilfe Würdige und weniger Würdige einteilt (in Mt 25, 36 wird nicht danach gefragt, warum jemand gefangen ist), der Entdualisierung von Positiv-negativ-Wertungen bestimmten Rassen und Gruppierungen gegenüber, der Entdualisierung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sofern die Letzteren Abwertungen und Sanktionen erfahren müssen, der Entdualisierung von Wahrheitsbesitzenden und Wahrheitsunfähigen u. v. a. m. Die vielfachen Verklebungen zwischen Gut und Böse in einer Person und in komplexen Situationen und Handlungen benötigen umso mehr den gerichtlichen Dualismus, um beides gerecht gegenseitig profilieren zu können. Das letzte Gericht beginnt mit einer radikalen Dualisierung, wie die Kunstwerke zum Weltenrichter zeigen. Das Gericht endet aber nicht mit diesem Dualismus, sondern überwindet ihn, ohne ihn zu schmälern, in der unerschöpflichen Versöhnungsmacht Gottes, aber absolut nicht billig und nicht die Erinnerung an die Leidensgeschichte schleifend, sondern umso schärfer aufdeckend und dem Feuer des aus dieser Liebe drängenden Reueschmerzes übergebend.

      So zeigt sich im Jüngsten Gericht die Offenheit für das Faktische genauso, wie die hermeneutische Perspektive seiner Beurteilung (um der Gerechtigkeit willen) und es zeigt sich zugleich die Offenheit für das nicht verstehbare Geheimnis der Gnade, das die Unterscheidungshermeneutik milliardenfach überholt und ihr jede Planbarkeit entzieht. Die Ambiguität der Erfahrungswelt kommt in die Eindeutigkeit des Gerichts und darin gleichzeitig in eine neue, unendliche Mehrdeutigkeit aus unerschöpflicher Liebe und Freiheit.

      Im Sinne des eschatologischen Doppelbeschlusses von Gericht und Rettung sind jene exkludierenden Sozialgestalten nicht mehr möglich, in der die Gerichteten (oft besonders die „Ungläubigen“) keine Chance auf Rettung haben. Letzteres wäre ein Dualismus, der die Neuschöpfung Gottes nicht universal genug sieht und damit letztlich die Universalität Gottes leugnet, und wäre eine Vernichtung der Semper-maior-Qualität Gottes, nämlich dass Gott immer wieder „mehr“ und „größer“ ist, als wir es uns vorstellen können.

      Dieses Gericht bleibt Gott und damit dem vorbehalten, der mit Macht und Herrlichkeit kommt. Wichtig ist also, dass den Kirchen selbst keine Richterfunktion über die Welt zukommt (vgl. Kühschelm, 278). Auch dies würde Gottes permanent alles Binäre in immer wieder neue Weiten und Kreativitäten hinein transzendierende Macht blockieren.

       GLAUBE AN DIE RECHTFERTIGUNG IST NICHT IHRE BEDINGUNG

      Martin Luther plädiert bekanntlich – zunächst – für einen wertschätzenden Umgang mit den Juden, der ihnen das wahre Evangelium von der Gnade Gottes erfahrbar werden lässt. Dass sie sich bisher nicht bekehrt haben, liegt für Luther daran, dass die Praxis der alten Kirche eben diese Gnade nicht vermittelt hat. Als Luther aber feststellen muss, dass die Juden auch im Zusammenhang des neuen Evangeliums sich nicht bekehren, versteigert er sich, mit der Heftigkeit eines abgewiesenen Liebhabers, bis zur Dämonisierung der Juden, und, je mehr er diese Wirkungslosigkeit der reformatorischen Glaubensverkündigung wahrnehmen muss, in die Vorstellung, dass sie ihr Elend verdient haben. Und dies auf dem Hintergrund einer Verstockungsvorstellung, nämlich dass Gott selber diese Hartnäckigkeit der Juden verursacht (vgl. Bultmann). Ist Gott selbst inklusionsblockierend?

      Dass der Text Röm 9-11, wo sich Paulus zu einer theologischen Anerkennung und Rettung der andersgläubigen Juden durchringt, in seiner entgrenzenden Dynamik glaubenspolitisch, offensichtlich auch bei Luther, so wirkungslos geblieben ist, gehört wohl zum fatalsten blinden Fleck der Christentumsgeschichte (vgl. Fuchs 1988, 269-280).

      Im christlichen Glauben ist der Glaube nicht die Bedingung für die Liebe Gottes, sondern die Auskunft darüber.

      Das Gefährliche ist dabei, dass anderslebende, andersdenkende und andersglaubende Menschen zu den Bösen geschlagen werden, die als noch schlimmer gelten als die schlimmsten Werksünder/innen. Denn die Werke lassen das Heil nicht verlieren. Für die Übeltäter gibt es zwischen Annahme und Ablehnung eine dritte Möglichkeit, nämlich die Annahme der Abgelehnten, für die Ungläubigen gäbe es dies nicht, nach dem Motto: Gott liebt dich nur, wenn du glaubst und wenn du zu den eigenen Glaubensbereichen dazugehörst.

      Dagegen ist im christlichen Glauben der Glaube nicht die Bedingung für die Liebe Gottes, sondern die Auskunft darüber und so die Bedingung dafür, etwas von dieser allen Menschen längst geschenkten und sie darin inkludierenden Liebe Gottes zu wissen und aus diesem Glaubenswissen heraus, dass Gott alle Menschen bedingungslos liebt, das Leben zu feiern, zu gestalten und, wenn erforderlich, zu verändern. Denn es ist ein großer Unterschied, ob mich jemand liebt, und ich weiß in Worten und Zeichen davon und kann mein Leben entsprechend gestalten, oder ob mich jemand liebt, und ich weiß nichts davon.

      Simone Weil schenkt uns hier eine beglückende Einsicht: „Eine der kostbarsten Freuden der irdischen Liebe, dem Geliebten zu dienen, ohne dass er davon weiß, ist im Falle der Liebe Gottes nur durch

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