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Lebendige Seelsorge 1/2018. Echter Verlag
Читать онлайн.Название Lebendige Seelsorge 1/2018
Год выпуска 0
isbn 9783429063771
Автор произведения Echter Verlag
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
INKLUSION ALS HALTUNG UND PROZESS
Inklusion ist deshalb kein Zustand, sondern Haltung und Prozess – Haltung, weil es vor allem auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft darauf ankommt, jene stigmatisierenden Einstellungen abzulegen, die soziale Exklusionen bewirken und gleichsam als ‚Kopfbarrieren‘ den gleichberechtigten Zugang aller zum gesellschaftlichen Leben be- oder sogar verhindern; Prozess, weil sich solche Haltungsänderungen nicht autoritativ verordnen und per Knopfdruck herstellen lassen, sondern sich erst in einem mitunter mühsamen Prozess gemeinsamen Lebens und Lernens in der Arbeitswelt, in der Kindertagesstätte, in Kirchengemeinden oder auch im Kulturleben einstellen können.
Prozesse der Inklusion sind in der Regel konfliktreich. Denn über die konzeptionellen wie ‚handwerklichen‘ Details ihrer Umsetzung hinaus entstehen Streitpunkte, die konkurrierende Interessen bis hin zu Stellvertreterkonflikte spiegeln. Eindrückliches Beispiel ist die Kontroverse um die Einführung der einen Schule für alle. Von einer herkömmlichen integrativen unterscheidet sich die inklusive Schule dadurch, dass sie auf den Vorbehalt der prinzipiellen Integrierbarkeit von ‚außergewöhnlich ausgestatteten‘ Schüler/innen verzichtet und stattdessen – im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention – den prinzipiellen Zugang zur Regelschule für alle ermöglicht. Denn nur in der Regelschule als Ort gemeinsamen Lernens und Lebens (!) lässt auf Seiten der bislang Ausgeschlossenen ein „gestärktes Gefühl der Zugehörigkei“ („enhanced sense of belonging“ [Präambel UN-BRK]) und auf Seiten nichtbehinderter Schüler/innen eine „respektvolle Einstellung gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, auch bei allen Kindern von früher Kindheit“ an (Art. 8 Abs. 2 UN-BRK) entstehen.
Im Mittelpunkt schulischen Lernens – das sich bekanntlich nicht auf das unterrichtliche Geschehen beschränkt – steht deshalb die identitätsbildende Kraft wechselseitig zugespielter Achtungserfahrungen, von der grundsätzlich alle profitieren können. Dieses Kernziel von Schule – übrigens in nahezu allen Schulgesetzen der Bundesländer in der einen oder anderen Formulierung hinterlegt – kollidiert aber nahezu zwangsläufig mit der heimlichen, gleichwohl dominierenden Zielvorgabe von Schule: nämlich die stratifizierende Verteilung gesellschaftlicher Aufstiegschancen der Schüler/innen auf der Basis curricular formulierter und komparatistisch gemessener Leistung; einem Ziel, das die einen fürchten, von dem aber die Mehrzahl aller Betroffenen (Eltern) zu profitieren hoffen.
Der Streit um die inklusive Schule erfährt gegenwärtig eine Neuauflage: Zehntausende geflüchteter Kinder und Jugendlicher erfahren zwar relativ unproblematisch ihre (von der UN-Kinderrechtskonvention geforderte) Beschulung in speziell eingerichteten ‚Willkommensklassen‘. Auch viele ‚höhere Schulen‘ wie Gymnasien bieten solche Klassen an, auch wenn für viele geflüchtete Schüler/innen schon aus sprachlichen Gründen das Qualifikationsziel Abitur kaum erreichbar scheint.
‚Willkommensklassen‘ laufen aber in der Regel nach einem Jahr aus – just zu einem Zeitpunkt, an dem die entstandenen Beziehungsnetze innerhalb der Schule ihre volle positive Kraft zu entfalten beginnen. Ob aber die Schüler/innen der sich auflösenden ‚Willkommensklassen‘ an der jeweiligen Schule verbleiben können, hängt – neben kapazitären Möglichkeiten – immer wieder davon ab, ob sie den gewöhnlichen Leistungsansprüchen gewachsen sind. Daran scheitern viele, und so werden sie weiteren Einsortierungen zugeführt, ohne das Inklusionspotential ihres weiteren Verbleibs zu nutzen. Der Verzicht auf ihre Fähigkeit zum Erwerb eines Abiturs – normalerweise von Gesetzes wegen die Voraussetzung für den Besuch eines Gymnasiums – könnte dagegen den Verbleib von geflüchteten Kindern und Jugendlichen und damit Inklusion wenigstens fragmentarisch ermöglichen.
Es ist unstrittig, dass Prozesse der Inklusion in den einzelnen Lebensbereichen (Schule, Arbeitswelt, politische Mitwirkung usw.) kaum isoliert erfolgen können. Sie müssen in eine umfassend inklusiv-aktive Bürgergesellschaft eingebettet sein, zu der neben den vielfältigen Vereinen und Vereinigungen nicht zuletzt auch die Religionsgemeinschaften und Kirchen in Gestalt ihrer vielstimmigen Gemeinden und Gemeinschaften, Institutionen und Werke zählen.
Solche Bürgergesellschaften – zu denen nicht nur die Staatsbürger/innen gehören, sondern selbstverständlich die ganze Bevölkerung – sind in gewisser Weise enabling communities: gleichermaßen befähigte wie befähigende Gemeinschaften also, die zwischen ihren Mitgliedern soziale Nähen und Handlungsr äume etablieren helfen, in denen die notwendigen persönlichen wie gesellschaftlichen Transformationsprozesse bereits selbst schon inklusiv, also unter Beteiligung potentiell aller Betroffenen vorangetrieben werden können.
Enabling communities stiften Solidargemein-schaften, in denen selbst der primäre Empfänger von materiellen oder immateriellen Unterstützungsleistungen sich „stets als vollwertiges
Mitglied der Gesellschaft empfinden kann“, wie die katholischen deutschen Bischöfe gemeinsam mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland Inklusion als Zielperspektive kirchlicher Sozialverkündigung in ihrem Wort „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ aus dem Jahr 2014 festhalten.
Damit kein Missverständnis entsteht: Inklusion verspricht keinesfalls paradiesische Zustände, also gleichsam den Himmel auf Erden. Eigentlich hat sie nur jene elementaren Gelingensbedingungen im Blick, die ein gedeihliches Zusammenleben zwischen den oftmals sehr verschiedenen Menschen ermöglichen helfen. In gewisser Weise ist sie sogar wohltuend nüchtern: Sie verlangt von niemandem, dass wir ihn ob seiner Eigen- und Andersheiten besonders wertschätzen, ihn sympathisch finden oder gar als beglückende Bereicherung für unser Leben erfahren. Wenn sich so etwas einstellen mag – und die Empirie basierten Prognosen sind sogar erstaunlich günstig –, umso besser. Was menschenrechtsbasierte Inklusion allerdings kategorisch fordert, ist die bedingungslose Akzeptanz anderer Menschen in ihrem Sosein, ohne ihnen die Teilhabechancen an der Gesellschaft zu verwehren – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Semper maior: Unerschöpfliche Inklusion ohne Differenzverlust
Die Rechtfertigungstheologie als Religions- und Sozialkritik
Es ist gut, das Lutherjahr inhaltlich nicht vorbei sein zu lassen. Denn was Luthers Rechtfertigungstheologie in gegenwärtigen Herausforderungen und Auseinandersetzungen bedeutet, scheint mir auch in den vielen eindrucksvollen Jubiläumsveranstaltungen immer noch zu wenig besprochen zu sein. Dieser Mangel berührt auch die Frage nach der Inklusionskraft des christlichen Gottesglaubens und der Religionen überhaupt (darauf hat auch Dierk Starnitzke (Ders., 115-120) für den Diakoniebereich hingewiesen). Die Ausweitung der Rechtfertigungstheologie auf die Nichtglaubenden scheint mir ein neuralgisches religionskritisches Problem zu sein, vor allem für die Glaubensbereiche. Ottmar Fuchs
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Im Fahrwasser seiner