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Problemen: In der Pastoral des Konzils ist eine kapitale Weltfinanzkrise wichtiger als der sprichwörtliche Bierpreis des Pfarrfestes. Was beim Konzil urgentiores necessitates heißt, nennt Foucault danger principal:

      „Ich möchte eine Genealogie der Probleme […] betreiben. Ich bemühe mich, nicht zu sagen, dass alles schlecht sei, sondern dass alles gefährlich ist – was nicht dasselbe ist wie schlecht. Wenn alles gefährlich ist, dann haben wir immer etwas zu tun. […] Ich denke, dass die […] Wahl, die wir jeden Tag treffen müssen, darin besteht zu bestimmen, was gerade die Hauptgefahr ist.“101

      Entsprechende Zeichen der Zeit sind dem französischen Konzilstheologen M.-Dominique Chenu zufolge im Positiven wie im Negativen faits révélateurs – offenbarungsträchtige Tatbestände, deren theologische Betrachtung das Kontinuum unseres Alltags orientierend unterbricht:

      „Die Eroberung der Bastille […] war ein winziges Ereignis unter vielen anderen. Aber dieses Ereignis […] wurde signifikant, da es einer ganzen revolutionären Welle als Symbol diente, die ein Jahrhundert lang rund um die Welt rollte. […] Es geht […] darum, in diesem Ereignis jene verborgene Macht zu erkennen, die aus ihm jenen […] Katalysator macht, der von nun an […] den Lauf der Zeiten bestimmt. Es kommt daher weniger auf den […] Inhalt des Ereignisses an als auf die kollektive Bewusstwerdung, die es in Gang setzt. […] Zeichen der Zeit sind […] allgemeine Phänomene, welche […] die Sehnsüchte der gegenwärtigen Menschheit zum Ausdruck bringen. Diese allgemeinen Phänomene sind […] wirkliche Zeichen nur durch jene Überschreitung, die sie – nicht ohne Brüche – in die Kontinuität menschlicher Zeitvorstellungen hineintragen.“102

      Ähnlich deutet Foucault die Bedeutung der Französischen Revolution:

      „Es ist […] nicht die Revolution an sich […], die die Bedeutungsfunktion erfüllt. Was sie erfüllt […], ist die Art und Weise, wie sie rings herum von den Zuschauern aufgenommen wird, die […] sich von ihr zum Guten oder Schlechten mitreißen lassen. […] Was an der Revolution von Bedeutung ist, das ist nicht die Revolution selbst, die ohnehin ein großes Durcheinander ist, sondern was in den Köpfen der Leute geschieht.“103

      Die Unterbrechungen, für die die jeweils signifikantesten Zeichen einer Zeit stehen, sind niemals nur eindeutig positiv oder negativ, sondern in sich stets höchst „ambivalent“104. In ihnen sitzt eine unaufhebbare Differenz zum Guten wie zum Bösen. Sie können auf ein Wachstum des Reiches Gottes hindeuten, zugleich aber auch auf das genaue Gegenteil. Chenu hat sie daher auch niemals einfach nur positiv als Anschlusssteine („pierres d’attente“105) messianischer Erwartung angesehen, sondern immer auch negativ als Steine des Anstoßes („pierres d’achoppement“106), die zu christlichem Widerstand herausfordern. Schon der nationalsozialistisch verbrannte Begriff des ‚Anschlusses‘ zeigt, dass jede theologische Deutung von Zeitsignalen einer entsprechenden Unterscheidung der Zeichen bedarf – wie auch das Beispiel zahlreicher ‚weltoffener‘ Theologen im sogenannten Dritten Reich nahelegt.107 Um die Notwendigkeit dieser gegenwartskritischen discretio signorum zu erkennen, muss man nur einmal das ‚Hitlerfromme‘ Buch Von den Katakomben bis zu den Zeichen der Zeit (1936) des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß zur Hand nehmen, dessen Titel möglicherweise auf den kurz zuvor erschienenen Sammelband Signale der neuen Zeit mit Reden von Joseph Goebbels anspielt. Wichtig für alle Formen einer prägnant zeitsignierten Theologie ist in jedem Fall: Man kann an den jeweiligen Signaturen der eigenen Gegenwart entweder positiv anknüpfen oder ihnen negativ widerstehen – keinesfalls aber darf man ihnen aus Angst vor der Wirklichkeit ausweichen.

       4. Denken in Konstellationen

      Praktische Theologie in den pluralen Differenzen der Spätmoderne bedeutet: „Es bedarf mindestens zweier Orte, um über ein theologisches Problem als theologisches zu sprechen.“108 Sie ist ein „Denken in Konstellationen“109, das man immer nur von mehr als einem theologischen Ort aus betreiben kann. Daraus folgt ein differenztheoretischer, in seiner Pluralität spätmodern gegenwartsfähiger Grundansatz: Es gibt nicht nur eine Schöpfungserzählung, sondern zwei. Es gibt nicht nur ein kanonisches Evangelium, sondern vier. Und es gibt nicht nur eine Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums, sondern zwei: Lumen gentium und Gaudium et spes. Theologische Einheitsutopien wie die Evangelienharmonie des Diatessaron von Tatian oder die Diskurskathedrale der Summa theologica des hl. Thomas wurden entweder (wie die erste) kirchenamtlich verworfen oder sie blieben (wie die zweite) absichtsvoll unvollendet. Die Frage nach dem letzten Einheitsgrund der Gegensätze jedenfalls trägt einen fundamentalen Gnadenindex und ist eschatologisch offen: Wir können ihn weder machen noch können wir ihn festhalten. Vor diesem Hintergrund erscheinen an Canos Diskursmodell der loci theologici110 mindestens drei Sachverhalte zukunftsweisend: ihr unabgeschlossener Plural der decem loci, ihre unaufhebbare Differenz von loci proprii und loci alieni sowie ihre hierarchisierte Dezentrierung zwischen loci constituentes und loci interpretandes. Ein solches konstellatives Denken ermöglicht eine Topik des Pluralen, die spätmodernem Theorieniveau entspricht. In einer bei Thomas Freyer entstandenen systematisch-theologischen Dissertation heißt es dementsprechend:

      „Die ‚Methode‘ meiner Arbeit habe ich als Topik gekennzeichnet, die ein Gelände aus verschiedenen Perspektiven beschreibt. Sie ergänzen sich, sind aber nicht voneinander abhängig. […] Der Zusammenhang, für den ich hier verantwortlich zeichne, hat den Anspruch, […] für weitere Orte offen zu bleiben. […] [Die alternative, Ch. B.] […] Möglichkeit steht für mich grundsätzlich in Zweifel, […] die Wirklichkeit des Glaubens […] von einem Standpunkt – einem Ort – aus als vernünftig auszuweisen.“111

      Auch de Certeau, ein theologischer ‚Doppelgänger‘ Foucaults, der in kulturwissenschaftlichen Kreisen längst vom Geheimtipp zur Pflichtlektüre avanciert ist, spricht von „theologischen Orten“112. Dabei zieht der spätmoderne Jesuit aus Frankreich jedoch ungleich radikalere Konsequenzen aus der pluralen Differenz der loci theologici als der frühneuzeitliche Dominikaner aus Spanien:

      „Autorität im Singular […] schließt […] ein Wissen in sich selber ein. Autoritäten im Plural hingegen lassen anderes zu. […] Eine Autorität […] zeigt sich darin, dass sie nicht ohne [pas sans] andere sein kann. […] Es gibt die Schrift, aber auch die patristische Tradition. Den Papst, aber auch das Konzil. Und so weiter. […] Christliche Autorität schafft einen Raum […]. Sie macht Differenzen möglich. […] Die kommunitäre Manifestation des Unendlichen […] ist durch eine Pluralität von Autoritäten repräsentiert, die […] denjenigen stets neu aussagen, der sie ermöglicht hat: Jesus Christus. […] Jede Gestalt von Autorität in der christlichen Gemeinschaft ist markiert von der Abwesenheit dessen, was sie begründet. Sei es die Schrift, die Traditionen, das Konzil, der Papst oder alle anderen: was sie erlaubt [permet], ist das, was ihr fehlt [manque]. […] Denn als Autorität reichen weder der Papst, noch die Schrift, noch diese oder jene Tradition allein aus: ihr fehlen die anderen.“113

      In diesem Zitat wird eine analytische Dreiheit deutlich, die für das Zueinander theologischer Orte in der Spätmoderne von entscheidender Bedeutung ist: manquerpermettresans pas. Jedem theologischen Ort ‚fehlen‘ (manquent) auf konstitutive Weise alle anderen. Dieses Fehlen ist ein ‚Manko’114, das eine prinzipiell unendliche Serie von neuen Orten ‚gestattet’115 (permet). Diese Orte sind jedoch nicht komplett ungebunden, sondern in der lebendigen Tradition der Kirche auf alle anderen bisherigen und zukünftigen angewiesen. Denn sie können ‚nicht ohne’116 (sans pas) diese anderen Instanzen der Glaubensbezeugung sein. Mit Martin Walser gesprochen: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“117 Oder zumindest ohne sein Gegenstück. Theologische Orte sind irreduzibel und zugleich auch inkommensurabel: Man kann sie weder aufeinander zurückführen noch untereinander verrechnen. Aber man kann sie so miteinander verbinden, dass ihre wechselseitige Relativierung Offenbarungsgehalt im Sinne zweier Dogmatischer Konstitutionen der beiden Vatikanischen Konzilien gewinnt: Dei filius (1870) und

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