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und Entchristlichung scheint unumkehrbar.35 Autonome Welterklärung und Daseinssicherung sind in Westeuropa für die meisten zur Selbstverständlichkeit geworden. Alle Lebensbereiche sind in der Spätmoderne durch die Grunderfahrung der „weltlich“ gewordenen Welt geprägt.36

      (b) Dennoch hat die Säkularisierungsthese an allgemeiner Plausibilität verloren und wird durch andere Erklärungsmodelle ergänzt bzw. ersetzt, die eher von einem Gestaltwandel des Religiösen sprechen und auch religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart ausmachen. Es ist von der „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt) die Rede, von „De-Säkularisierung“ (Peter L. Berger) und von „Re-Spiritualisierung“ (Matthias Horx), gar vom „Megatrend Religion“ (Regina Polak). Es gibt weltweit zahlreiche Anzeichen bleibender Relevanz der Religion und ihres Erstarkens und auch in Deutschland eine verstärktes Interesse an Religion in der „postsäkularen Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) und eine Sehnsucht nach Spiritualität.37

      (c) Doch mindestens für Westeuropa und international für eine einflussreiche Schicht mit höherer Bildung westlicher Art gilt, dass Religion radikal an Verbindlichkeit und Signifikanz verloren hat. Die autonome und rationale Gestaltung der ausdifferenzierten Bereiche der Gesellschaft, die kritische Rationalität des Denkens und die Freiheit gegenüber Religion und im Bereich des Religiösen sind hier für die meisten wichtige Errungenschaften der Moderne, die sie verteidigen wollen.

      Das stolze Selbstbewusstsein der Moderne ließ sich im Fortschrittsgedanken bündeln.

      (a) Spätmodern ist dieser Fortschritt regelrecht entfesselt: Naturbeherrschung, Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung haben ein bisher ungeahntes Maß erreicht.

      (b) Zugleich wird die Ambivalenz dieser Entwicklungen sichtbar, und der Fortschrittsgedanke verliert an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. „Der Fortschritt ist unaufhaltsam“ – dass diese Floskel nur noch als ironische Reaktion auf Veränderungen präsent ist, deren Sinn nicht wirklich einzusehen ist, fängt am alltagssprachlichen Beispiel die Ernüchterung über das Projekt der Moderne ein. Der Verdacht macht sich breit, dass die zunehmend bewusst werdenden Nebenfolgen die Errungenschaften des Fortschritts möglicherweise überrunden. Außerdem fällt es vielen zunehmend schwer, angesichts der entfesselten Fortschrittsdynamik Sinn und Orientierung zu finden.

      (c) Dennoch bleiben der Reiz des Neuen und die Hoffnung auf Verbesserungen unverwüstlich. Eine pauschale Fortschrittsfeindlichkeit wäre fraglos auch borniert und gefährlich. Errungenschaften beispielsweise in den Bereichen Medizin, Informationstechnologie oder Mobilität haben einen Maßstab gesetzt, von dem auch spätmodern die meisten kaum wünschen werden, dass er unterschritten wird.38

       3. Theologie, die an der Zeit ist

      Diese Erwägungen, die in vielem eher holzschnittartig bleiben mussten, konnten das grundsätzliche Zueinander von Moderne und Gegenwart in Kontinuität und Wandel charakterisieren, wie er im Begriff der Spätmoderne angelegt ist. Theologie, die an der Zeit ist, darf die angesprochenen Spannungen der Spätmoderne nicht unterbieten. Sie unterbietet sie dann, wenn sie „nur“ modern denkt, oder wenn sie sie gar vormodern oder postmodern auflösen will. Trotz ihrer oft gegensätzlich erscheinenden Positionen stimmen prä- und postmoderne Vereinfachungen darin überein, dass sie die Spannungen der Spätmoderne nicht aushalten wollen oder können. Außerdem nehmen beide gerne Zuflucht zu einer besserwisserischen Attitüde: Man müsse nur dies oder jenes zur Kenntnis nehmen oder praktizieren, schon wäre alles besser. Doch eine Praktische Theologie, die sich den Spannungen der Spätmoderne stellt, wird solche vereinfachenden Lösungsansätze als weder wünschenswert noch praktikabel entlarven.

      Naturwissenschaft, Technik, ökonomisches Gewinnstreben, gesellschaftliche Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung sind als Grundgegebenheiten der Moderne anzunehmen. Ihre zum Teil verheerenden (Neben-)Folgen sind aber zu kritisieren und zu bekämpfen, ihr Fortschrittsimpetus kritisch zu hinterfragen und ihr Heilsanspruch zu bestreiten. Spätmoderne Zeitgenossenschaft wird an Entwicklungen anknüpfen, die quer zu den angesprochenen Prozessen der Modernisierung liegen, zugleich aber an wichtigen Prämissen und Errungenschaften der Moderne festhalten:

      • Spätmoderne Theologie und Kirche können die Suche nach einem Sinn des Lebens begleiten und unterstützen, der die partikularen Bereiche des gesellschaftlichen Alltags überspannt, ohne aber die enormen Erfolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu negieren.

      • Sie können die Sehnsucht nach Spiritualität aufgreifen, ohne aber in Irrationalität zu verfallen.

      • Sie können die Ahnung der Begrenztheit einer rein autonomen und individuellen Daseinsdeutung und -bewältigung bestätigen, ohne aber den Anspruch der Selbstbestimmung zu hintergehen.

      • Sie können Christen helfen, „aus der säkularisierungstheoretisch begründeten Selbsteinschüchterung herauszukommen“,39 werden aber auch zu einer Verkündigung, die der kritischen Rationalität der Hörerinnen und Hörer Rechnung trägt, und zu einem pastoralen Handeln, das Freiheit respektiert und ermöglicht, ermutigen.

      Wenn dem Projekt der Moderne einerseits nicht einfach eine Absage erteilt wird, es sich aber so radikalisiert hat und so problematisch geworden ist, dass man auch nicht einfach daran festhalten kann, werden Kirche, Pastoral und (Praktische) Theologie (wie auch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft) mit einer Ohnmacht konfrontiert, mit der nicht einfach umzugehen ist. Wer sich solche Ohnmacht eingesteht, wird damit aber nicht automatisch handlungsunfähig oder völlig ratlos. Vielmehr wird er im Wissen um das Spannungsgefüge der Spätmoderne eindeutigen und einlinigen Erklärungen und einfachen, flächendeckenden Lösungen misstrauen. In diesem Sinne kann Praktische Theologie Reflexion und Orientierung erleichtern, indem sie erhellende Zusammenhänge aufweist und auf gelungene Beispiele zeitgemäßer Pastoral hinweist.40 Eine Praktische Theologie, die an der Zeit ist, kann so dem Volk Gottes auf dem Weg eine gute Begleiterin sein: Sie beansprucht in unübersichtlichen Zeiten nicht völlige Klarsicht, vernebelt aber auch nicht noch zusätzlich; sie bietet Deutungskategorien und Wegerfahrungen an, die Orientierung ermöglichen und zum nächsten Schritt ermutigen.

       Differenzen der Spätmoderne

       Praktische Theologie vor der Herausforderung der Gegenwart

      Christian Bauer

      „You better start swimming,

      or you’ll sink like a stone […]“41

      Eine exemplarische Szene: Während einer theologischen Diskussion über die Postmoderne meldet sich ein sympathischer Praktischer Theologe der älteren Generation zu Wort. Er beklagt, dass heute alles ins Schwimmen geraten sei. Man müsse daher nach festem Grund suchen – woraufhin ein Systematiker folgendermaßen reagiert: „Wo alles ins Schwimmen gerät, ist es das Falscheste, mit den Füßen nach festem Grund zu suchen. Dann ertrinkt man nämlich. Man sollte lieber versuchen, schwimmen zu lernen.“

      Schwimmen lernen in den Wassern der Spätmoderne, das ist gar nicht so einfach ohne sicheren Halt unter den Füßen – aber so schwierig, wie es zunächst scheint, ist es auch nicht. Denn nachdem die Moderne ihren „Schiffbruch mit Zuschauer“42 erlitten hatte, schwimmt im spätmodernen Meer der Gegenwart noch mancherlei brauchbares Treibgut herum. Man kann sich daran festhalten. Und vielleicht auch kleine Boote daraus zimmern. Folgende Warnung Friedrich Nietzsches, eines philosophischen Ahnherren der Spätmoderne, sollte man dabei allerdings stets im Ohr behalten:

      „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh‘ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei und Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. […] Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als

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