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abschreibt und auswendiglernt, wie dies Erasmus selbst getan und anderen empfohlen hatte. Zwingli macht dabei die Erfahrung, dass er das Evangelium besser versteht, wenn er es in der Ursprache liest. Dem Urtext allein ist es allerdings nicht zu verdanken, dass Zwingli den Grundsatz der alleinigen Autorität der Schrift in theologischen und philosophischen Fragen bestätigt findet, wie er ihm in Glarus bereits aufgegangen ist. Es kommen erneut als Gebetserhörung eine Entdeckung und eine Erleuchtung hinzu.

      Bisher war Zwingli gewohnt, bei seinen Bibelstudien die damals gebräuchlichen kirchlich-scholastischen Kommentare zu Hilfe zu nehmen. Alle diese Bücher aber werden ihm mehr und mehr zum Ballast. Eines Tages kommt er dazu, dass er diese weglegt und dabei die Erfahrung macht, dass er den Bibeltext besser versteht, wenn er ihn ohne kommentierende Hilfsmittel liest. Es ist die Entdeckung des exegetischen Prinzips „der sich selbst auslegenden Schrift“, der scriptura sui ipsius interpres. Rückblickend beschreibt Zwingli diese äußere exegetische Entdeckung als innere Erleuchtung (illuminatio). „Ich bin“, berichtet er8, „wie andere in meiner Jugend in menschlichen Wissenschaften vorangekommen. Als ich nun aber vor sieben oder acht Jahren anfing, mich ganz an die Heilige Schrift zu halten, kam mir die Philosophie und Theologie der Zanggeren immer dazwischen.9 Da kam mir schließlich, angeleitet durch Schrift und Wort Gottes, der Gedanke: Du musst das alles liegen lassen und Gottes Willen unmittelbar aus seinem eigenen, eindeutigen Wort lernen! Da hub ich an Gott zu bitten um sein Licht, und da begann mir die Schrift viel klarer zu werden, wiewohl ich sie bloß las, als wenn ich dabei viele Kommentare und Ausleger gelesen hätte.“

      Das Erlebnis der Erleuchtung auf Grund der Entdeckung, dass die Bibel aus sich selber verstanden werden will, hat für Zwinglis Schriftverständnis nachhaltige Konsequenzen.

      – Es fällt die damals noch übliche Unterscheidung von literarischem und geistlichem Schriftsinn und damit auch die allegorische Schriftauslegung weg. „Der allegorische Schriftsinn vermag nichts zu beweisen, was nicht sonst schon in der Schrift ausdrücklich enthalten ist.“10

      – Für die Exegese ist wichtig, dass die Heilige Schrift als Ganze wahrgenommen werden will: „Alles in der heiligen Schrift muss aus dem Zusammenhang heraus verstanden werden.“11

      – Mit der Heiligen Schrift als Ganzes sind immer beide Testamente gemeint. In Bezug auf den Kanon der Schrift gilt, „dass alles, was wir das Neue Testament nennen, seine Autorität und sein Fundament im Alten hat.“12

      – Nicht unwichtig ist eine demütige Haltung. „In Gottes Wort soll man nicht Hader hineintragen“13, vielmehr „will die Heilige Schrift einfach und freundlich behandelt sein.“14

      – Die Kirchenväter werden damit nicht bedeutungslos. Zwingli liest sie weiterhin regelmäßig und fleißig. Sie werden aber nicht mehr konsultiert als schriftunabhängige kirchliche Autoritäten, sondern als Bibelausleger.

      – Um die Schrift so zu verstehen, wie sie sich selber versteht, und um ihr als Wort Gottes Glauben zu schenken, sind wir auf die Erleuchtung durch den Heiligen Geist angewiesen. Diese hat Zwingli in Einsiedeln so erstmals erlebt und freut sich zeitlebens darüber. „O Gott, du bist es, der mich erleuchtet. Du zündest das Licht an in mir. Es ist das Licht des Verstehens.“15

      Christus und die Heilige Schrift

      Wie das Bibelverständnis, so erfährt in Einsiedeln auch Zwinglis Christusverhältnis eine spirituelle Vertiefung, wonach er Schritt für Schritt „zur Überzeugung und zum Glauben gelangt sei, dass wir keines Mittlers bedürfen außer Christus, ebenso, dass zwischen uns und Gott niemand Mittler sein kann außer Christus allein.“ Er berichtet und erinnert sich, und damit sind wir beim dritten rückblickenden Selbstzeugnis16: „Ich habe vor acht oder neun Jahren ein trostreiches Gedicht gelesen, verfasst von dem hochgelehrten Erasmus von Rotterdam, an den Herrn Jesus gerichtet, worin sich Jesus in vielen sehr schönen Worten beklagt, dass man nicht alles Gute bei ihm suche, da er doch der Quell alles Guten, der Heilmacher, Trost und Schatz der Seele sei. Da habe ich gedacht: Es verhält sich wirklich so. Warum suchen wir dann Hilfe bei den Geschöpfen?“ Diese seine Erinnerung geht zum einen zurück ins Jahr 1514, als das von ihm erwähnte Gedicht des Erasmus, die Expostulatio Jesu cum homine, erstmals erschienen und Zwingli offenbar kurz nach Erscheinen bereits in Glarus bekannt geworden ist und ihn tief beeindruckt hat. Er habe dann allerdings, fährt er fort, „daneben bei dem erwähnten Erasmus auch andere ‚carmina‘ oder Gesänge gefunden, die an die heilige Anna, den heiligen Michael und andere gerichtet waren, und in denen er die Angesprochenen als Fürsprecher anruft.“ Diese Erinnerung geht nun nicht mehr zurück bis ins Jahr 1514, sondern lediglich ins Jahr 1518, also in Zwinglis Einsiedlerzeit. Dort hatte er nämlich mittlerweile vom Buchdrucker Froben in Basel einen Sammelband erasmianischer Schriften geschenkt erhalten, in dem nebst der Expostulatio auch die von Zwingli erwähnten Gesänge bzw. Gebete an Engel und Heilige abgedruckt sind. Nun ergänzt Zwingli seine Erinnerung an das Jahr 1514, als er die Expostulatio des Erasmus gelesen hatte, mit derjenigen an die Einsiedlerzeit von 1518. Damals habe er damit begonnen, berichtet er, veranlasst erneut durch Erasmus, nunmehr aber in kritischer Distanz zu ihm, „erst recht die Schriften der Bibel und der Kirchenväter zu studieren, ob ich von ihnen zuverlässig über die Fürbitte der Seligen unterrichtet würde. Um es kurz zu machen: Ich fand darüber in der Bibel gar nichts, bei den Alten fand ich bei einigen etwas, bei den anderen nichts. Doch beeindruckte mich wenig, wenn sie auch die Fürbitte der Seligen lehrten; denn sie blieben mir stets die biblischen Belegstellen schuldig. Und wenn ich dann die Schrift, die sie in ihrem Sinne zurechtbogen, in ihrem Urtext studierte, so hatte sie nicht den Sinn, den sie ihr abgewinnen wollten.“ Die von Zwingli empfundene Widersprüchlichkeit der theologischen Tradition bekräftigt ihm demnach das Prinzip der sola scriptura als Grundlage für den theologischen Diskurs, und die Schrift lässt ihm das solus Christus auch in der Frage der Fürbitte der Heiligen zur Gewissheit werden. Dank der Expostulatio des Erasmus wird Zwingli 1514 auf die Frage der Fürbitte der Heiligen aufmerksam, in Distanzierung zu Erasmus gelangt er 1518 in Einsiedeln zur Überzeugung, „dass Christus der einzige Schatz unserer armen Seelen sei“, eine Erkenntnis, von der ihn auch ein Erasmus nicht mehr abbringen könne.

      Ergebnis und Ausblick

      Aus Zwinglis Selbstzeugnissen über seinen spirituellen Werdegang geht hervor, dass für ihn stets zusammengehören: Erfahrung und Erkenntnis, Erlebnis und Reflexion, Erleuchtung und Studium, Glauben und Verstehen. Seine Spiritualität ist dem Verstand zugänglich, wie umgekehrt sein theologisches Denken auf spiritueller Erfahrung beruht. Im Einzelnen bedeutet dies:

      – Schriftprinzip (sola scriptura) und Christologie (solus Christus) sind aufeinander bezogen. Das solus Christus ergibt sich aus dem sola scriptura, wie umgekehrt der Entscheid, sich in allen theologischen und philosophischen und später auch politischen Fragen allein von der Schrift leiten zu lassen, seinen Grund in Christus hat. Er ist der Prüfstein zur Unterscheidung von Göttlichem und Menschlichem, er ist das Licht, das aus dem Dilemma der theologischen und philosophischen Widersprüchlichkeiten befreit.

      – Die Frucht, die daraus erwächst, ist die evangelische Predigt. Zwingli beginnt am 1. Januar 1519, seinem 35. Geburtstag, dem Tag seines Amtsantritts am Großmünster in Zürich seine Predigttätigkeit damit, dass er sich nicht mehr an die Perikopenordnung hält. Soll die Predigt schriftgemäß sein, gilt als homiletischer Grundsatz die fortlaufende Textauslegung (lectio continua). Weil gleichzeitig Zwingli daran gelegen ist, dass Christus verkündigt wird, beginnt er mit dem Matthäusevangelium.

      – Das reformatorische Schriftprinzip (sola scriptura) erscheint auf dem Hintergrund der historisch-kritischen Forschung als heute kaum mehr vertretbarer Biblizismus. Nun war auch Zwingli klar, dass die geschriebene Bibel nicht identisch ist mit Gottes Wort. Sola scriptura meint dementsprechend nicht die Ausschließlichkeit der biblischen Offenbarung (es gibt für Zwingli Christusoffenbarung auch unter den „Heiden“), sondern den Grundsatz, dass Theologie und Kirche sich an der Heiligen Schrift als „Vorgabe und Richtschnur“17 zu orientieren haben. Entsprechend hält Zwingli auch im Bezug auf sich selbst die bessere Belehrung durch die Heilige Schrift stets offen: „Wenn ich im Verständnis der göttlichen Schrift irgendwo

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