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auf, die besondere Bedeutung erlangen. Das eine ist die Apokalyptik, die besonders im jüdischen Umfeld Fuß fasst. Sie sieht die Welt als ein Schlachtfeld zwischen den Mächten von Gut und Böse, in der wenige Getreue durch Gehorsam gegenüber der guten Macht gerettet werden. Solche Vorstellungen werden nicht nur in der Offenbarung des Johannes aufgenommen, sondern sie finden auch Eingang in die endzeitlichen Vorstellungen der Evangelien. Ein zweites Phänomen ist die Gnosis, griechisch für „Wissen“. Sie ist eher in hellenistischem Gedankengut beheimatet und sieht in der Aneignung geheimen Wissens den Weg der Menschen weg von einer materiellen und als solcher bösen Welt hin zu einer spirituellen und vergeistigten Existenz, die in ihrer Vollendung Erlösung bedeutet. Auch diese Art des Denkens findet Eingang in die Evangelien und lässt sich besonders gut am Johannesevangelium nachweisen.

      In dieser Welt der Umbrüche entstehen innerhalb der zweiten Generation von Christen die Schriften, die wir Evangelien nennen. In den Schriften treffen moderne Leserinnen und Leser nicht nur auf eine fremde kulturelle Welt, auch die Literaturgattung als solche ist nicht mit dem zu vergleichen, was wir heute als Literatur kennen. Die Evangelien sind keine historischen Romane oder Dramen oder Poesie, und auch Biographien sehen heute anders aus.

      Doch ein Vergleich mit antiker Literatur lohnt sich durchaus. In der Forschung wird beispielsweise immer wieder der Vergleich mit antiken Biographien herangezogen. Tatsächlich hatten antike Biographien eine andere Funktion und Form als heutige. Den antiken Autoren ging es weniger um eine historisch möglichst korrekte und anhand von Dokumenten überprüfbare Darstellung von Persönlichkeiten. Sie waren vielmehr interessiert an einer Sammlung von anekdotenhaft erzählten Ereignissen, die dazu dienten, die Lehre einer Person in Schlaglichtern für die Schüler zu erhalten. Philostratus und Diogenes Laërtius schrieben viele Biographien von Philosophen, die auf impressionistische Weise Erzählungen zusammentrugen, die heute oft mit Skepsis bezüglich ihrer Historizität beurteilt werden. Solche Biographien hatten das Ziel, den Beschriebenen Ehre zu erweisen.

      Während einige Elemente solcher Biographien sich für den Vergleich mit den Evangelien durchaus anbieten, ist die Identifikation eher schwierig. Zum einen wird Jesus nicht als Philosoph beschrieben, zum anderen verstanden sich die Gemeinden der Evangelien wohl nicht als philosophische Schulen. Während die Evangelien eine Lehre Jesu beschreiben und sie auch für autoritativ erklären, liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Person Jesu als Sohn Gottes, Erlöser, als Herr und als Gott. Erst die Person macht auch seine Lehre verbindlich. Das Bekenntnis des Thomas in Joh 20,28 macht dies mehr als deutlich.

      Der Fokus auf die Person Jesu wird im Umgang mit seinem Tod greifbar. Die Evangelien mühen sich offensichtlich um eine Sprache, die dem Tod Jesu als einer Art Zeitenwende gerecht wird. Markus tut dies mit der Sprache vom Lösegeld (Mk 10,45); Matthäus sieht im Tod Jesu das endgültige Opfer, das die Sünde vergibt (Mt 26,28); Lukas löst das Problem erzählerisch, indem er den Tod Jesu zum Mittelpunkt seines Geschichtswerkes macht, dessen erster Teil das Evangelium mit der Geschichte Jesu ist, der zweite Teil die Apostelgeschichte mit der Geschichte der frühen Kirche. Johannes spricht von einem Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29) und so Gottes Herrlichkeit offenbart (Joh 17,1–4).

      Mit diesem Akzent auf der Person Jesu wird der Vergleich mit antiken Biographien jedoch schal. Während die Evangelien durchaus mit antiken Biographien vergleichbar sind, was die Art der Sammlung und Präsentation von Anekdoten angeht, setzen sie sich doch inhaltlich weit von ihnen ab. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass mit den Evangelien eine neue Literaturgattung in Erscheinung tritt.

      Evangelium bedeutet zunächst einfach „frohe Botschaft“. Damit wurde in frühester Zeit zunächst die Predigt Jesu von der Herrschaft Gottes bezeichnet. Der Aufruf „Glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) drückt genau dies aus. Paulus predigte das Evangelium Gottes, das er dann auch das Evangelium von Christus nennt (Röm 1,1–3). Hier wird deutlich, dass in früher christlicher Predigt nicht nur die von Jesus verkündete Botschaft Evangelium ist, sondern dass Jesus selbst nun zum Inhalt des Evangeliums wird (vgl. 1 Kor 15,1–8). Bei Paulus schließt dies noch keine Berichte über die Taten Jesu mit ein. Für ihn werden lediglich Tod und Auferstehung Jesu Teil des Evangeliums Gottes, das nun auch von Jesus handelt. Möglicherweise findet sich in Apg 10,34–43 eine frühe Predigt, die diese Botschaft von der Zusammengehörigkeit von Gottes Handeln und Jesu Passion und Auferstehung belegt.

      Wiederum im Markusevangelium findet sich eine weitere Entwicklung, wenn davon erzählt wird, dass die Frau, die Jesus für sein Begräbnis salbte, Teil des Evangeliums wird, das in der ganzen Welt verkündet wird (Mk 14,9). Das Markusevangelium ist Beleg dafür, wie der Evangeliumsbegriff erweitert wird. Zu der Botschaft Gottes und dem Tod und der Auferstehung Jesu treten nun auch Berichte über Ereignisse im Leben Jesu hinzu.

      Damit war der Weg geebnet für die Bezeichnung auch der Schriften, die von diesen Ereignissen um Jesus berichteten. Womöglich ist Mk 1,1 das erste Beispiel für den Gebrauch von „Evangelium“ für das schriftliche Dokument. In der Mitte des 2. Jahrhunderts benutzte Justin der Märtyrer in seiner um 155 geschriebenen Apologie zum ersten Mal den Begriff mit eindeutigem Bezug auf die vier Evangelien. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis wusste von dieser Bezeichnung zu Beginn des 2. Jahrhunderts noch nicht.

      Dieser kurze Überblick über die Begriffsentwicklung zeigt, dass in der Bezeichnung „Evangelium“ für die vier ersten Schriften des Neuen Testaments der Verkündigungsgedanke grundlegend ist. Erst als Jesus selbst zum Objekt der Verkündigung wurde, konnte der Begriff auch für die entsprechenden Schriften benutzt werden. Damit sind aber die Evangelien in ihrer jetzigen Gestalt Verkündigung in erzählerischer Form. Selbst wenn sie gelegentlich wie antike Biographien aussehen oder modernen Leserinnen und Lesern wie historische Romane erscheinen mögen, liegt ihnen doch eine religiöse Aussageabsicht zugrunde, die von Gottes Herrschaft und Jesus als Gottes Sohn künden will.

      Heute gibt es in der Interpretation der Evangelien zwei Extreme. Es besteht einerseits die Gefahr, dass die Evangelien in einer angeblich akademischen Objektivität den Methoden der historischen, literarischen und kulturhistorischen Forschung unterzogen werden und die Texte damit zu Beispielen antiker Literatur werden, die zwar interessant sein mögen, aber auch nicht interessanter als die Biographien eines Diogenes Laërtius. Dabei geht verloren, warum diese Texte überhaupt entstanden sind.

      Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Texte in ihrem religiösen Anspruch so ernst genommen werden, dass sich eine objektive Untersuchung anhand von wissenschaftlichen Methoden verbietet, weil sie „Gottes Wort“ sind und somit jenseits jeder kritischen Anfrage von wissenschaftlicher Seite stehen.

      In beiden Fällen handelt es sich um Extreme, die entweder in wissenschaftlichem oder religiösem Fundamentalismus münden. Eine ausgewogene und verantwortbare Interpretation nimmt wahr, dass es sich um Texte mit einem religiösen Anspruch handelt. Aber es handelt sich eben auch um Texte, die in einer bestimmten Zeit unter bestimmten historischen, kulturellen und sozialen Umständen entstanden sind. Sie verfolgen ihre religiösen Zwecke mit der Form der Erzählung, und so muss auch die Form Teil der Interpretation bleiben.

      Wenn das Johannesevangelium zu Beginn konstatiert, dass das Wort Fleisch geworden ist (Joh 1,14), so will es ausdrücken, dass der eingeborene Sohn Gottes, der mit Gott eins ist, Mensch geworden ist. Man kann dies auch auf den Anspruch der Evangelien anwenden. Wenn die Evangelien, wie Christen bekennen, Teil des Wortes Gottes sind, so sind sie doch Fleisch geworden in Texten des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, in einer historisch und kulturell geprägten Zeit, die von unserer verschieden ist. Es lässt sich also von den historischen Umständen nicht abstrahieren, will man dieses Wort als Gottes Wort auch verstehen. Andererseits wird ein lediglich historischer Ansatz die Faszination der Evangelien nicht begreifen können.

      Man mag sich dem religiösen Anspruch der Texte verschließen oder ihn ablehnen oder annehmen. Doch wie immer die Reaktion ausfallen mag, wirkliches Verständnis für diese Texte stellt sich erst ein, wenn man ihren Anspruch ernst

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