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zur Kreuzigung, wo schließlich der römische Hauptmann Jesus als Gottes Sohn bekennt (Mk 15,39). Das Markusevangelium entwirft also einen Spannungsbogen über den gesamten Text. Hier wird deutlich, dass dieses Evangelium mehr ist als eine Sammlung von Traditionen. Das Markusevangelium entpuppt sich als literarisch und theologisch durchdachtes Werk.

      In den letzten Jahrzehnten sind zu diesen etablierten Methoden der Evangelienforschung noch viele weitere hinzugekommen, von denen einige vielversprechend sind. Soziologie und Kulturanthropologie geben neue Einblicke in die Selbstorganisation von großen und kleinen Gesellschaftsformen, die sich auf religiöser, sozialer, philosophischer oder auch politischer Basis zusammenfinden. Diese Wissenschaften helfen zu verstehen, wie viel stärker Menschen auf soziale Vernetzungen bezogen waren, als sich das moderne Menschen heute vorstellen.

      Besonders interessant werden solche Untersuchungen, wenn zwischen Gruppen Konflikte entstehen. So betont Mt 5,20, dass die Gerechtigkeit der Jüngerinnen und Jünger bezüglich des jüdischen Gesetzes die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer bei weitem übertreffen muss. Aus dem Evangelium wird hier und anderswo deutlich, dass genau diese Gruppen die Gegner der matthäischen Schar darstellen.

      Erwähnenswert ist auch, dass sich in letzter Zeit Studien durchsetzen, deren Ausgangspunkt weder Text noch antike Kultur ist, sondern die Textinterpretation von modernen Themen her beginnen. Feministische Exegese ist interessiert an der Frage nach der Rolle von Frauen in der Bibel oder auch an der möglichen Autorität patriarchaler Texte heute. Ähnliche Ansätze finden sich in homosexueller Exegese. Solche Interpretationsansätze sind eher marginal, können aber durchaus originelle Einsichten liefern.

      Taucht man in die Welt der Evangelien ein, sind besonders drei große Themen sehr wichtig.

      Die religiöse Welt der Evangelien wird durch das Judentum bestimmt. Das Judentum zur Zeit der Abfassung der Evangelien war äußerst vielschichtig. Verschiedenste Gruppen rivalisierten miteinander und unterschieden sich durch religiöse und politische Überzeugungen. Davon geben Flavius Josefus, Philo und auch die Schriftrollen von Qumran detailliert Aufschluss. Zu den wichtigsten Gruppen innerhalb des Judentums gehörten Sadduzäer, Pharisäer, Samariter, Essener und Zeloten.

      Sadduzäer führten ihren Ursprung auf den Hohepriester Zadok zurück und wurden daher nach ihm benannt. Sie waren hauptsächlich mit dem Tempel in Jerusalem und den dort dargebrachten Opfern verbunden. Sie gehörten einer priesterlichen Kaste an. Als aristokratische Elite waren sie politisch mit der römischen Besatzungsmacht liiert, um die Erhaltung der sozialen Ordnung und ihrer Führungsposition innerhalb dieser Ordnung zu gewährleisten. Religiös waren sie eher konservativ und beharrten auf der Interpretation der Tora, des jüdischen Gesetzes. Anderen Traditionen, wie einem Glauben an eine Auferstehung, standen sie misstrauisch gegenüber. Die Sadduzäer konzentrierten ihre Präsenz auf Jerusalem als dem religiösen und politischen Zentrum Israels.

      Der Name „Pharisäer“ leitet sich wahrscheinlich vom aramäischen Wort für „abgeschieden“ her. Tatsächlich führte ein besonderes Interesse an Reinheit und Unreinheit dazu, dass sie sich von Dingen und Personen distanzierten, die sie für unrein hielten. Dazu gehörten auch Heiden. Pharisäer kritisierten zwar den Tempelkult nicht, standen aber auch nicht in besonderer Verbindung mit ihm. Ihr Interesse galt der Auslegung der Tora, des jüdischen Gesetzes, das sie stark mit mündlichen Überlieferungen oder „Überlieferungen der Ältesten“ (vgl. Mk 7,3.5) anreicherten. Von Schriftgelehrten sind sie kaum zu unterscheiden. Dies spiegelt sich in den Evangelien, wo Schriftgelehrte und Pharisäer oft eine homogene Gruppe sind und, wie in Mt 23, auch gemeinsam verurteilt werden. Zu weiteren pharisäischen Traditionen gehörte der Glaube an die Auferstehung von den Toten. Pharisäer lebten meist abseits von Jerusalem in ländlichen Gegenden und waren in den Synagogen sehr einflussreich.

      Ob man die Samariter als Juden bezeichnen soll oder nicht, sei dahingestellt. Sie selbst sahen sich als die wahren Kinder Abrahams und die treuen Anhänger des Mose und der Tora. Sie lebten in einer Gegend namens Samaria zwischen Galiläa und Jerusalem und hatten einen eigenen Tempel auf dem Berg Garizim, wo sie opferten. Juden betrachteten die Samariter nicht als dem Judentum zugehörig, und so entstand zwischen Samaritern und Juden eine Feindseligkeit, wie sie in Johannes 4 gespiegelt ist.

      Die geheimnisvollste Gruppe ist wohl die der Essener. Oft werden sie mit den in Qumran gefundenen Schriften in Verbindung gebracht, allerdings ist die Selbstbezeichnung in diesen Schriften nicht „Essener“, sondern „Söhne des Lichts“. Heute ist nicht mehr bekannt, woher der Name „Essener“ stammt. Die Gruppe war wohl eine jüdische Oppositionsbewegung, die dem Tempelkult in Jerusalem feindselig gegenüberstand und ihn als unrein betrachtete. Im Neuen Testament spielen sie kaum eine Rolle. Ihre Schriften illustrieren aber durchaus die mögliche Vielfalt jüdischer Religiosität.

      Als Zeloten, griechisch für „Eiferer“, bezeichnet man eine Gruppe von Juden, deren religiöse Überzeugung im bewaffneten Widerstand gegen die römische Besatzungsmacht Ausdruck fand. Attentate auf Nichtjuden und kleinere Scharmützel mit Besatzungstruppen begannen mit dem Ende der Herrschaft der herodianischen Dynastie in Judäa im Jahr 6 n. Chr. und lösten letztlich einen Aufstand aus, der im Jahr 70 n. Chr. mit der vollständigen Zerstörung Jerusalems durch die Römer endete.

      Die politische Welt der Evangelien ist durch die Besetzung Israels durch die Römer bestimmt, die im Jahr 64 v. Chr. begann. Die Römer setzten zunächst Könige, wie beispielsweise Herodes, danach Prokuratoren und Gouverneure ein, um ihren Machtanspruch sicherzustellen. Lokale Institutionen blieben unter diesen Machthabern bestehen. So behielt der jüdische Sanhedrin als eine Art Senatsregierung gewisse Privilegien. Die römische Oberhoheit machte sich hauptsächlich in Steuern und Abgaben bemerkbar, aber auch durch eine verstärkte militärische Präsenz, deren Kosten von den Besetzten zu bestreiten war. In Fällen von Unruhen griff das Militär hart ein.

      Das römische Regierungssystem war von Korruption bestimmt. Zudem gab es keine realistische Beschwerdemöglichkeit, sollte ein römischer Amtsinhaber seine Macht missbrauchen. Geschichten wie die vom Steuereintreiber Zachäus (Lk 19,1–10), der bereitwillig seine Betrügereien zugibt, geben einen Blick auf dieses System frei. Die Habgier des Prokurators Gessius Florus, der während seiner Amtszeit von 64–66 n. Chr. sogar den jüdischen Tempelschatz seinem Privatvermögen einverleiben wollte, war einer der Auslöser für einen Aufstand, der im Jahr 66 begann und vier Jahre später zur Zerstörung Jerusalems führte.

      Die sozio-kulturelle Welt der Evangelien ist ein Aufeinandertreffen verschiedener religiöser Überzeugungen, politischer Ansprüche und ethnischer Diversität. Die Evangelien erzählen von Begegnungen Jesu mit Samaritern und Heiden, mit Griechen und Römern und mit vielen Juden aus unterschiedlichen Gruppen. Schon hier wird deutlich, wie stark die Welt der Evangelien von der Auseinandersetzung verschiedenster Strömungen bestimmt ist.

      Die Evangelien sind dafür nur ein Abbild der Entwicklung des frühen Christentums. Jesus war ein jüdischer Wanderprediger aus Galiläa, der unter Juden predigte. Aber seine Jüngerinnen und Jünger tragen den Glauben an Jesus als die Erscheinung Gottes unter den Menschen bald nicht nur zu Juden, sondern auch zu Heiden. Das Pfingstereignis in der Apostelgeschichte zählt symbolisch eine Vielfalt von Völkern auf, die plötzlich alle die Sprache der Apostel verstehen (Apg 2,7–11). Damit ist sicher nicht nur die Sprachbarriere gemeint.

      Dabei geht es nicht nur um die Begegnung verschiedener Völker, auch verschiedene Kulturen treffen aufeinander. Seit den Eroberungszügen von Alexander dem Großen stand der gesamte Mittelmeerraum unter dem Einfluss griechischer Werte und Philosophie. Man nennt dieses Phänomen den Hellenismus, und auch die Römer entzogen sich dem nicht. Griechisches Gedankengut verband sich mit lokalen Gegebenheiten zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Synkretismus. So gibt es durchaus jüdische Schriften, die sich hellenistischem Gedankengut nicht verschließen. Philo von Alexandrien ist ein gutes Beispiel für einen gebildeten Juden, der die griechische Philosophie mit seinem Glauben verbinden wollte und entsprechende Kommentare zu vielen jüdischen Büchern schrieb. Aber es gab auch Kritiker, die in der neuen Kultur eine Bedrohung sahen. Das erste

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