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Die Voraussetzung der zentralen Erlösungsbotschaft des Neuen Testamentes ist also unmittelbar an das Eingeständnis der eigenen Endlichkeit gekoppelt und baut sozusagen auf der empfundenen, existentiellen Betroffenheit des Einzelnen auf. Die Annahme der Auferstehungsbotschaft und in Folge die Annahme der christlichen Eschatologie verlangen zunächst, die Ernsthaftigkeit des Todes in den Blick zu nehmen, für den dieser Glaube ein Interpretationsangebot darstellt, mit dem Anspruch, darin leben und sterben zu können.

      Die Göttliche Komödie nimmt den Tod in den Blick, den Tod der Verstorbenen, denen Dante begegnet, aber auch seinen eigenen, der ihm ja noch bevorsteht und den er in seinem Werk geistig vorvollzieht. Die Erfahrung des Sterbenmüssens und des Todes ist Voraussetzung für alles, was uns in der Divina Commedia begegnet. Insofern ist das Werk Schlüssel zum Geheimnis des Todes. So wie der christliche Auferstehungsglaube die Problematik der eigenen Endlichkeit zu lösen sucht, so baut die Jenseitswanderung auf der Erfahrung irdischer Begrenztheit auf – letztlich verdichtet in der existentiellen Betroffenheit angesichts des eigenen Todes. Nicht zuletzt die Not der empfundenen Endlichkeit menschlichen Lebens ist damit Motivation für Dante, die DC zu verfassen und Motivation des Lesers, sich mit ihr zu beschäftigen.

       1.9 Ewigkeit als Realität oder Fiktion – Aufriss eines ›theologischen Konstruktivismus‹

       1.9.1 Zum Grundverständnis des Konstruktivismus

      Es gibt keine Beweise für das Jenseits und seine Beschaffenheit, auch keine theologischen. Der Glaube betont die Möglichkeit der Hoffnung, begründet diese mit der Auferstehung Jesu und seiner Reich-Gottes-Botschaft und ermutigt, vertrauensvoll das eigene Leben zu gestalten. Der Mensch hat also die Wahl : Er muss sich entscheiden, in welchen Deutungshorizont er den Tod (und damit auch sein Leben) hineinstellt. Fernab von der unergiebigen Suche nach Hinweisen oder gar Belegen für oder wider eine nachtodliche Fortexistenz des persönlichen Lebens in einer wie auch immer gearteten Jenseitigkeit ist daher der Blick auf den Vorgang selbst zu lenken : Wie und warum entwickelt der Mensch eine Jenseitsvorstellung ? Gewinnbringend für die theologische Reflexion ist dabei der Ansatz des Konstruktivismus. Bereits Ludwig Feuerbach hat in seiner Kritik des christlichen Jenseitsglaubens – und damit auch an seiner am Platonismus orientierten philosophischen Grundlegung (und der darauf aufbauenden Metaphysik) – eine projizierte Jenseitigkeit als reines Konstrukt des Menschen angenommen. Feuerbachs Projektionstheorie, nach der sich der Mensch nach seinen unerfüllt bleibenden Sehnsüchten ein Jenseits konstruiert, welches ihm die Erfüllung seiner Wünsche verheißt, leitet Jenseitsvorstellungen aus den Erfahrungen des Diesseits ab, die sich darin wiederum abbilden. Der Glaube wird so zur Projektionsfläche irdischer Nöte und Hoffnungen. Seine konsequente Forderung hieraus ist, dass aus Theologie Anthropologie werde, Jenseits und Gottesglaube aufgegeben werden, der Atheismus als wahrer Humanismus sich durchsetze.93

      Im Gegensatz zu dieser den Glauben als Fiktion betrachtenden, religionskritischen Sicht Feuerbachs betont der Konstruktivismus der Gegenwart die Subjektabhängigkeit aller (!) Wirklichkeit. Auch die wissenschaftliche Weltsicht wird von ihm als notwendig konstruiert ausgewiesen. Diese Konstruktivität allen Denkens ermöglicht nun einen neuen Zugang der christlichen Eschatologie zum Diskurs der Wissenschaften.

      Der Konstruktivismus geht der Frage nach, wie der Mensch wissen kann, was er zu wissen glaubt. Dieser Glaube entspricht nach Paul Watzlawick einer konstruierten Annahme. Er verweist darauf, »dass jede Wirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer ist, die diese Wirklichkeit zu entdecken und erforschen glauben […]. Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewusst ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint und zur Grundlage seines ›Wissens‹ und daher seines Handelns macht.«94 Der Konstruktivismus geht nicht mehr von einer Entsprechung von Wissen und Wirklichkeit aus, von einer Korrespondenz von Erkenntnisobjekt und -subjekt ; vielmehr spricht er von einer funktionalen Anpassung, über die hinaus nichts gesichert ist. Ernst von Glasersfeld verdeutlicht in seiner Darstellung des radikalen Konstruktivismus diese (An-)Passung bzw. ›fitness‹95, womit er den Zusammenhang von Erlebniswelt und dazu passenden, brauchbaren kognitiven Strukturen meint. Der funktional-pragmatische Weg des radikalen Konstruktivismus schreibe der Erkenntnistheorie lediglich »die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens«96 zu. Die Annahme einer Nichterkennbarkeit objektiver Strukturen in der Welt kann auch mit dem Begriff der Wahrheit (als übereinstimmend mit der ontologischen Wirklichkeit) nichts mehr anfangen. Erkenntnis fällt dabei ganz auf das erkennende Subjekt und seine Art der Wirklichkeitskonstruktion zurück. Hierbei wird die Erfahrungsabhängigkeit aller Erkenntnis betont, die mit der Zweckdienlichkeit des Erkannten in Zusammenhang steht. Im Verweis auf Jean Piagets Theorie der Assimilation und Akkommodation dienen nach Glasersfeld die passenden Denk- und Verhaltensweisen dazu, sich »eine mehr oder weniger verlässliche Welt zu bauen.«97 Dabei spielen Kausalität und Finalität in der Erkenntnis keine Rolle mehr. Vielmehr verweist nach Rupert Riedl eine evolutionäre Erkenntnislehre darauf, dass die Suche nach Ursachen die Welt in eine wahrgenommene und eine gedachte spaltet, »in Seele und Leib, in Geist und Materie. Dies ist die Wurzel des Streites zwischen Rationalismus und Empirismus, Idealismus und Materialismus, Geistes- und Naturwissenschaft, Zweck- und Kausalerklärung, Hermeneutik und Szientistik, der seit zweieinhalb Jahrtausenden unsere ganze Kulturgeschichte durchzieht.«98 Der Konstruktivismus sieht den Grund der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften in der Position einer vermeintlichen Ausschließbarkeit ihrer jeweiligen Erklärungswege.99 Die hermeneutischen und im Blick auf Finalität sich verstehenden Geisteswissenschaften wollen aber keine andere Welt erklären als die szientistischen, die Kausalität prüfenden Naturwissenschaften. Der Konstruktivismus will daher auch zur Überwindung der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften beitragen, indem er als gemeinsame Grundlage dienen kann.

       1.9.2 Die Divina Commedia vor dem Hintergrund des Konstruktivismus

      Obgleich die Zeit der Science-Fiction erst im 19. Jahrhundert (u. a. mit Jules Verne) anhebt, so kommt doch deren Charakteristik als Darstellung alternativer Möglichkeit realer Begebenheit auch durch Dantes Göttliche Komödie zum Ausdruck.100 Die fiktive Annahme intendiert im Gegensatz zur wissenschaftlichen Hypothese keinen Wirklichkeitsbeweis. Sie bleibt von Verifikation und Falsifikation unberührt. Aber auch die (natur)wissenschaftliche Erkenntnissuche lebt nach dem Konstruktivismus von ihren fiktiven Vorannahmen. Der Weg zu einer neuen Beleuchtung der Göttlichen Komödie im Wissenschaftsdiskurs ist damit – vor dem Hintergrund des Konstruktivismus – geebnet. Hierbei sind die von Paul Watzlawick aufgezeigten Merkmale des konstruktivistischen Verständnisses hilfreich wie die wirklichkeitsschaffende Weltsicht, das Phänomen der Rückbezüglichkeit, die Bedeutung des analogen Sprechens, die Stufen des Wissens und die Auffassung, dass Wirklichkeit Ergebnis von Kommunikation ist.

      Nach Watzlawick erschafft der Mensch seine Wirklichkeit : »Was wir die Wirklichkeit nennen, wird also nicht von uns entdeckt, sondern recht eigentlich geschaffen.«101 Insofern ist der Mensch auch für seine wirklichkeitserschaffende Weltsicht verantwortlich. Dante erschafft sein Jenseits mit einer bestimmten Intention : Er konstruiert es in Anlehnung an die Kunst und Theologie seiner Zeit, um das Diesseits besser zu verstehen.102 Er erschafft eine Wirklichkeit, für die er nicht nur Verantwortung trägt, sondern wodurch verantwortliches Handeln im Diesseits einen Sinn- und Deutungshorizont (vom konstruierten Jenseits her) erfährt.

      Das Phänomen der Rückbezüglichkeit103, welches im Konstruktivismus eine zentrale Rolle einnimmt, liegt dieser doppelten Konstruktion zugrunde, denn Dante konstruiert nicht nur das Diesseits aus der Perspektive des Jenseits, ebenso wird das Jenseits von der diesseitigen Erfahrung her neu interpretiert, von der Perspektive des Diesseits her kreativ konstruiert. Diesseitiges und Jenseitiges legen sich somit gegenseitig aus, sie sind in Dantes Werk zirkuläre Erscheinungen (circuli vitiosi), ihre Kommunikationsstruktur ist letztlich kreisförmig. Dante begibt sich entsprechend in seiner Jenseitswanderung selbst in diese Rückbezüglichkeit hinein : Seine irdischen

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