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Gottes zu entdecken. Und für die Nicht-Glaubenden „funktioniert“ es trotzdem.

      Indem er arbeitet, offenbart sich Gott. Er zeigt sich, indem das Leben seinen Gang geht: zu jeder Stunde und alle Tage. Er zeigt sich, ob er erkannt wird, oder nicht. Aber Gott hofft: Er schafft den Menschen um eines Geschöpfes willen, das gottfähig ist; ein Geschöpf, das die Selbstgabe Gottes verstehen und darauf antworten kann. Wie Gottes Arbeit im individuellen Leben wirkt, muss prinzipiell „lesbar“, verstehbar und benennbar sein. Gottes Zuwendung machte keinen Sinn, wenn sie für den Menschen nicht zu verstehen wäre. Offenbarung zeigt das Geheimnis Gottes – in seinen Wirkungen. „Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab.“ (Joh 10,25)

       Offenbarung für Nicht-Religiöse?

      An dieser Stelle entsteht allerdings eine Unsicherheit. Was ist dem säkularen Verstehen zugänglich? Kann die Selbstoffenbarung Gottes wahrgenommen werden, wenn Menschen nicht auf religiöse Erfahrung und theologische Vorstellungen des Christentums zurückgreifen können oder wollen?

      Hier könnte die Konstitution Dei filius des I. Vaticanums weiterhelfen. Sie setzt in Abschnitt 232 eine wichtige Unterscheidung: Sie zitiert gleichzeitig Röm 1,20 (Gott wird an den Werken der Schöpfung erkannt) und 1 Kor 2,7–11 (Gott kann nur durch die Gabe des Heiligen Geistes erkannt werden). Versucht man dieses Doppelzitat für den hier gegebenen Kontext auszulegen, so ergibt sich: Die spezifische Gestalt der christlichen Offenbarung lässt sich weder einfach aus der Natur noch aus dem menschlichen Denken und Empfinden allein ableiten. Diese spezifische Gestalt erfordert ein „mehr“, um sie überhaupt erkennen zu können: Sie braucht die Wortoffenbarung der Heiligen Schrift und vor allem die Kenntnis des menschgewordenen Wortes Gottes, Jesus Christus.

      Dem „natürlichen“ Verstehen ist aber der Bereich der Ethik zugänglich. Jeder Mensch sollte erkennen und unterscheiden können, ob Erlebnisse, Erkenntnisse, Kräfte oder Entdeckungen stimmig, lebensförderlich, zukunftseröffnend wirken oder im Gegenteil zerstörerisch, beengend und lebensbeschädigend sind. In der Linie des I. Vaticanums lässt sich somit sagen, dass Gott in jedem Leben und in allen Situationen wirkt und auf Erlösung hin arbeitet. Die Wirkungen dieses Mühens Gottes können mit der säkularen Vernunft und Emotionalität unterschieden und damit erkannt werden. Es ist aber nicht möglich, dadurch Einsicht in den christlichen Glauben und die biblischen Gottesvorstellungen zu gewinnen. Diese Einsicht entsteht erst durch die Gabe des Geistes im deutenden Wort.

      Die Selbstoffenbarung Gottes im eigenen Leben kann also auf einer ersten Ebene „gelesen“ und verstanden werden, ohne dieses Verstehen mit biblisch-christlichen Vokabeln zu kodieren. Damit ist schon Ende des 19. Jh. dem Menschen der Postmoderne ein Weg der Gotteserfahrung und Gottesbegegnung frei geräumt, der auch für die Seelsorge neue Handlungsspielräume eröffnet. Denn während vor der Aufklärung nahezu alle Menschen in Europa auf den christlichen Kosmos aus Worten, Bildern, inneren Vorstellungen und Geboten zurückgriffen, um sich selbst und das eigene Leben zu verstehen und zu deuten, hat sich spätestens mit der Postmoderne eine Trennung eingestellt, die nicht mehr umkehrbar scheint. Die modernen Menschen, Agnostiker ebenso wie Religiose, begreifen sich und deuten ihr Erleben und Handeln zuerst und vollständig ohne Gott. Sie verwenden säkulare Kategorien und greifen höchstens zusätzlich und quasi als „Mehrwert“ auch auf spezifisch christliche, gar theologische Symbolwelten zurück. Sie erzählen sich selbst und ihr Leben, ihre Existenz und Identität etsi Deus non daretur („als wenn es Gott nicht geben würde“).

      Da deshalb immer weniger Menschen im Kontakt mit Seelsorger(inne)n oder engagierten Christ(inn)en explizit nach dem „Grund ihrer Hoffnung“ (1 Petr 3,15) fragten, kam es faktisch zu einer Selbst-Säkularisierung seelsorgerlichen Handelns. Weiter verstärkt durch die zweifellos notwendige Integration psychologischer Erkenntnisse und Interventionsformen wurde seelsorgerliches Sprechen in den letzten Jahrzehnten immer zurückhaltender gegenüber biblisch-christlichen Deutungen. Religiös sprachlose Menschen treffen also im schlechtesten Fall auf Seelsorger(innen), die darin ungeübt sind, anspruchsvoll-verstehbare religiöse Sprache je neu kreativ aus der jeweiligen Situation heraus zu entwickeln und so das „Wort Gottes“ frisch, persönlich und poetisch zu sagen. Es ist fast paradox: Die Menschen machen Erfahrungen mit Gott, der für sie arbeitet, können dessen Wirkungen beschreiben, begegnen zugewandten Seelsorger(inne)n – sie können aber dennoch ihr Erleben nicht auf Gott hin deuten.

       Eine theopoietische Seelsorge

      Der theopoietische Ansatz setzt ganz bei der Lebensrelevanz an und verweist auf das Geheimnis Gottes, der sich in jedem Leben offenbart. Er versucht, Gottes Wirken in der Lebensgeschichte des je einzelnen Menschen aufzufinden und zu benennen und unterstützt so das Bemühen eines Menschen, sich selbst zu verstehen. Jeder Mensch erzählt sein Leben auf eigene Weise. Er schafft sich seine eigene Lebenserzählung – doch diese bleibt provisorisch, experimentell, nur im Jetzt gültig. Ein solcher Blick auf das eigene Leben ist keine objektive Chronik, Beschreibung, auch kein Tatsachenbericht, sondern immer gedeutete Erzählung, die aus einem nur jetzt erkennbaren oder nur jetzt zur Verfügung stehenden Deutungshorizont entstehen kann. Je nach Rolle, Situation, vermuteter Erwartungshaltung der Hörer, je nach Alter, Denk- und Deutegewohnheiten können die Erzählungen des gleichen Sprechers bzw. der gleichen Sprecherin über sein(ihr) Leben stark variieren. Im Freundeskreis erzählt jemand sein Leben anders als im Kontakt mit den eigenen Eltern oder Kindern. Zudem entwickeln sich die Erzählungen des eigenen Lebens ständig weiter, integrieren neue Erlebnisse. Frühere Ereignisse können als „bedeutungslos“ ausgemustert oder im Gegenteil neu bewertet werden. So unterscheiden sich zum Beispiel die Erzählungen, bevor und nachdem Menschen eine Partnerschaft eingegangen sind. Innerhalb einer neuen Partnerschaft erzählen sie ihr Leben anders: Manche frühere Beziehung verschwindet vielleicht aus der Lebenserzählung oder erfährt einen anderen Stellenwert.

       Gottes Arbeit wahrnehmen

      Weil Gott immer für den Menschen arbeitet, werden in den Deutungen des eigenen Lebens unablässig die Wirkungen der Arbeit Gottes abgespeichert. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Autor(inn)en der Lebensgeschichten auf religiöse Deutemuster zurückgreifen können und wollen, ob sie christliches Vokabular verwenden, ob sie Gott als real-mögliche Hypothese akzeptieren, sich gar als gläubige Menschen begreifen oder nicht.

      In der theopoietischen Sichtweise greift der/die Seelsorger(in) die Wirkungen Gottes in der Lebensgeschichte auf und eröffnet dadurch eine neue, umfassende Perspektive. In der theopoietischen Seelsorge geschieht nur das, was in allen Alltagsgesprächen ständig vorkommt: Zu einer bestehenden Lebensdeutung wird im Gespräch mit dem/der Seelsorger(in) eine weitere Deutung hinzugefügt und eine Verknüpfung – in diesem Fall zwischen Lebenserzählung und christlicher Verkündigung – geschaffen. Indem so zwei verschiedene Elemente miteinander in Beziehung treten, entsteht ein neuer Raum der Bedeutung.

      Es kommt ohne weiteres Zutun der Gesprächspartner(innen) zu einem religionskreativen Geschehen: Die innere Spannung der beiden Erzählungen von Leben und Evangelium lässt das Angebot einer neuen, anderen Deutungs- bzw. Sinnperspektive für das Leben des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin entstehen. Denn nun gerät eine bisher säkulare, eventuell agnostische Lebenserzählung in Spannung zu einer fremden, christlich profilierten Deutung. Der/Die Seelsorger(in) bietet das Mühen und Wirken Gottes als mögliche Deutung der Lebensgeschichte an und legt es zu den bisherigen Deutungen dazu. Unvermeidlich verändert sich die Situation durch diese „Zugabe“. Der betroffene Mensch kann die theopoietische Deutung der Erfahrungen annehmen oder ablehnen. Aber er wird sie, eine wechselseitig wertschätzende Gesprächsatmosphäre vorausgesetzt, kaum ignorieren. In diesem einen Moment bilden die aktuelle Lebenserzählung und die christliche Deutung gemeinsam die Basis, auf der gesprochen wird. Im Idealfall „glauben“ beide Gesprächspartner(innen) in diesem Moment – und vielleicht nur für diesen Moment – an das konkrete, lebenspraktische, wohlwollende Wirken Gottes in den erzählten Begebenheiten. Sie glauben aber nicht einfach die christliche Botschaft, wie sie kodifiziert wurde, sondern sie glauben die personalaktuelle Theologie dieser konkreten Lebensgeschichte: Gottes Wort und Menschenwort ineinander verwoben zu etwas Neuem, jetzt lebendig Pulsierendem, möglicherweise

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