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Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans
Читать онлайн.Название Balancieren statt ausschließen
Год выпуска 0
isbn 9783429060312
Автор произведения Hildegard Wustmans
Жанр Документальная литература
Серия Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Издательство Bookwire
Dies hat u. a. zur Folge, dass heute Dinge miteinander kombiniert werden können, die in den vergangenen Generationen weitgehend mit einem Tabu belegt waren, und ganz neue Lebensentwürfe werden möglich. Besonders deutlich zeigen sich die Veränderungen in den Lebensläufen junger Frauen im Vergleich zu denen ihrer Mütter und Großmütter. Zu den deutlichen Veränderungen gehören vor allem die sehr viel besseren Bildungsmöglichkeiten für Frauen, die sehr viel stärkere Einbindung von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt und die Tatsache, dass sie über eigenes Einkommen verfügen. Frauen haben eindeutig das Bestreben nach einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies zeigt auch die Frauenerwerbstätigenquote, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Inzwischen sind fast 60 Prozent aller Frauen erwerbstätig (vgl. BMFSFJ 2004, 23), wobei ein großer Anteil der Frauen teilzeitbeschäftigt ist. „Nach Angaben des Mikrozensus 2002 stellen Frauen rund 86 % der Teilzeitbeschäftigten. Weit über die Hälfte (62,2 %) der teilzeitbeschäftigten Frauen geben dafür persönliche oder familiäre Verpflichtungen als Grund an“ (BMFSFJ 2004, 58). Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass auch Frauen mit Kindern zunehmend erwerbstätig sein wollen. Fast zwei Drittel der Mütter mit Kindern sind heute erwerbstätig. Zu berücksichtigen ist jedoch in diesem Kontext das Alter der Kinder. Je jünger die Kinder, desto seltener sind die Mütter berufstätig (vgl. BMFSFJ 2004, 23). Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim hat die Veränderungen in den Biografien von Frauen als eine Entwicklung vom ‚Dasein für andere‘ zum Anspruch auf ein Stück ‚eigenes Leben‘ gekennzeichnet (vgl. Beck-Gernsheim 1983).
Die Entwicklungen im Bereich der Biografien von Frauen zeigen, dass die sogenannte ‚weibliche Normalbiografie‘ einen deutlichen Individualisierungsschub erlebt hat (vgl. Beck-Gernsheim 1983, 308 f.). Neue Handlungsräume, neue Entscheidungsmöglichkeiten und neue Lebenschancen sind für Frauen möglich. Aber diese verursachen auch neue Unsicherheiten bei den Frauen und nicht zuletzt auch im Verhältnis der Geschlechter. Es zeigt sich gerade an dem Punkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dass aus den neuen Chancen auch neue Zumutungen hervorgehen. Die Chance der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist gerade auch für die Frauen zu einer neuen Belastung geworden. Vielfach sind sie es, die die Kosten dieser neuen Möglichkeiten zu tragen haben. Auch wenn Frauen sich heute nicht mehr selbstverständlich über das Familiendasein und den Mann als Ernährer definieren, sind sie immer noch weitaus häufiger als Männer für die Familienaufgaben zuständig. Studien belegen, dass die klassische Rollenverteilung der Betreuung der Kinder (und des Haushalts) nach wie vor die Hauptaufgabe der Frauen ist, und dies trotz steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen und auch unabhängig vom sozialen Status, Bildungsniveau sowie Anzahl der Kinder. „Männer übernehmen bei der Betreuung der Kinder am liebsten Aktivitäten im Bereich von Sport und Spiel (81 % der Zeit, die Frauen dafür aufwenden). Bei der Körperpflege und Betreuung der Kinder bleiben Männer gerade bei einem Drittel dessen, was ihre Partnerinnen leisten. Erwerbstätige Frauen mit Kindern unter 6 Jahren wenden für die Betreuung ihres Nachwuchses mit knapp 2,5 Stunden doppelt so viel Zeit auf wie erwerbstätige Männer“ (BMFSFJ 2004, 88). Diese Daten belegen zugleich einen weiteren wichtigen Punkt, nämlich dass nach wie vor die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland faktisch ein reines Frauenproblem ist.
Die Auflösung der Milieus produziert auch neue Überforderungen und führt zu neuen Belastungen. Effektivität und Nutzen sind zum allgemeinen Kriterium geworden. Dies erklärt auch, warum es nicht nur jene gibt, die von den Wahlmöglichkeiten und dem gesellschaftlichen Reichtum profitieren, sondern auch diejenigen, die durch die Maschen fallen. In der Gesellschaft sind sehr deutlich jene auszumachen, die vom Freiheitsgewinn überfordert sind, die mit den neuen Entwicklungen nicht mehr mithalten können und die nun von keinem Milieu mehr aufgefangen werden. Während in vormodernen Gesellschaften durch die Familie Sicherheit und Orientierung gegeben wurde, entsteht jetzt ein Vakuum, das jede/jeder Einzelne neu füllen muss. Die Normalbiografie wird damit zur ‚Wahlbiografie‘, zur ‚reflexiven Biografie‘, zur ‚Bastelbiografie‘. Alle menschlichen Lebensbereiche stehen zur Wahl. „Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994, 16). Die zunehmende Komplexität von Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungszwängen führt auch zu einem erhöhten Konfliktpotenzial in Partnerschaften und in den Zusammenhängen von Ehe und Familie, weil verbindliche Regeln fehlen (vgl. Beck-Gernsheim 1986, 144–173). Dafür stehen die hohen Scheidungsquoten und die Zahl der alleinerziehenden Mütter, von denen ein großer Teil auf Sozialhilfe angewiesen ist.6 Der moderne Sozialstaat übernimmt im Kontext der sozialen Absicherung einige Aufgaben, aber auch diese werden durch neue Sozialgesetzgebungen immer weiter zurückgefahren. Die Situation für die Modernisierungsverlierer/-innen wird immer prekärer.7
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Generationenvergleich Frauen heute in der Regel besser dastehen als ihre Mütter und Großmütter, ohne jedoch mit den Männern gleichgezogen zu haben. Das Interesse von Frauen an eigenständiger ökonomischer Absicherung und Berufstätigkeit gerät immer wieder in Konflikt mit dem Wunsch nach Partnerschaft und Mutterschaft. Häufig sehen sich Frauen in ihrem Bestreben nach einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf Mehrfachbelastungen ausgesetzt, da sie zum einen noch immer mit einem vielfach traditionellen Rollenverhalten der Partner konfrontiert sind und zum anderen ausreichende Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder nach wie vor Mangelware sind, gerade in ländlichen Gebieten. Für viele Frauen gilt, dass sie die Differenz zwischen den neuen Möglichkeiten und den alten Erwartungen deutlich und mit aller Macht spüren. Sie bewegen sich zwischen Herausforderung und Überforderung. Auf diese Zusammenhänge macht die französische Philosophin Elisabeth Badinter (2010) aufmerksam. Sie plädiert dafür, die Mutterrolle zu entlasten und auf die Fähigkeiten von Frauen, das eigene Leben und die Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten, zu vertrauen. „Je mehr man die Mutterrolle entlastet, umso mehr respektiert man die Entscheidungen der Mutter und der Frau und umso stärker wird diese geneigt sein, das Experiment zu wagen, ja es sogar zu wiederholen. Das Modell der Halbzeitmutter zu unterstützen, das einige allerdings immer noch unzureichend und damit verwerflich finden, ist heutzutage der ideale Weg, Frauen zum Kinderkriegen zu ermuntern. Wenn man hingegen von der Mutter verlangt, die Frau zu opfern, die in ihr steckt, wird sie nur die Geburt des ersten Kindes noch weiter hinauszögern oder gar ganz davon absehen“ (Badinter 2010, 182 f.).
Die Lage der Frauen ist von einer ausgeprägten Ambivalenz gekennzeichnet und sie sind von der potenziellen Gefahr bedroht, zwischen den Polen und den unterschiedlichen Erwartungen zerrieben zu werden. Eine Möglichkeit, dieser Gefahr zu entgehen, besteht darin, sich immer wieder neu den eigenen Ansprüchen und Erwartungen zu stellen und sie in eine Balance zu den Erwartungen im Außen zu bringen. An dieser Arbeit an den Balancen führt wohl kein Weg vorbei, wenn Frauen einem Nullsummenspiel entgehen wollen.
1.1.3 Pluralität in der Kirche – die pastorale Herausforderung der Balance
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen machen selbst vor der Kirche nicht halt, auch wenn sie mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bei ihr zu verzeichnen sind. Der gesellschaftliche Prozess von Individualisierung und Pluralisierung hat auch bei ihr Einzug gehalten und fordert Konsequenzen.