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Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans
Читать онлайн.Название Balancieren statt ausschließen
Год выпуска 0
isbn 9783429060312
Автор произведения Hildegard Wustmans
Жанр Документальная литература
Серия Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Издательство Bookwire
Bei der Untersuchung dieses Rituals wie auch anderer Frauenkulte zeigt sich, dass es eine Dreiphasenstruktur (vgl. Kapitel 4.3.1; van Gennep 1999) aufweist. „Die erste Phase, Ilembi genannt, trennt die Kandidatin von der profanen Welt; die zweite namens Kunkunka (wörtlich: ‚in der Grashütte‘), isoliert sie teilweise vom alltäglichen Leben, während die dritte, die die Bezeichnung Ku-tumbuka trägt, einen festlichen Tanz umfaßt, mit dem man die Heilung der Kandidatin und ihre Rückkehr zum normalen Leben feierlich begeht. Diese letzte Phase des Isoma-Rituals ist erreicht, wenn die Kandidatin ein Kind zur Welt bringt und es das Kleinkindalter überlebt“ (Turner 2000, 20 f.).
In unserer Gesellschaft gibt es solch kulturell eingebundene Rituale nicht. Aber das heißt nicht, dass es keinen Bedarf dafür gibt. Vor allem Frauen formulieren den Wunsch nach Ritualen in Krisenzeiten oder bei besonderen Ereignissen in ihrem Leben. Es gilt auch heute, was Turner schon bei den Ndembu entdeckte, „daß die Entscheidung, ein Ritual auszuführen, sehr oft mit Krisen im Sozialleben“ zusammenhängt (Turner 2000, 17; vgl. Riedel-Pfäfflin/Strecker 1998).
Wenn Frauen heute Rituale entwickeln und feiern, ihre eigene spirituelle Kompetenz entfalten, dann tun sie etwas Unerhörtes. Sie beanspruchen für sich, dass Rituale heil machende, befreiende und segnende Zustände menschlicher Existenz und menschlichen Zusammenlebens vorwegnehmen und erfahrbar machen und dass mit ihrer Hilfe Krisen durchschritten und überwunden werden können. Durch Rituale wird es ihnen möglich, neue soziale Orte zu erobern. Dies zeigt sich in besonderer Weise dann, wenn Frauen Rituale entwickeln und feiern, die verworfene Teile des Lebens benennen (das Ende einer Beziehung, bei einer Frühgeburt, nach einer Vergewaltigung), und wenn sie diese Erfahrungen im Ritual in heilvollere Zustände überführen. Die Themen, die sie benennen, verstören. Zugleich gelingt es durch die Zeichen, die sie ausbilden, Schritte ins Leben zu weisen. Die Rituale vergegenwärtigen Situationen und ermöglichen aber auch, diese abzuschließen und zu überschreiten. Eine Veränderung tritt ein, Perspektiven und Zukunft werden eröffnet. Die Themen, die Frauen in Frauenliturgien und in Ritualfeiern aufgreifen, bestechen durch ihre Lebensnähe, durch ihre ansprechende und kreative Form in der Umsetzung (vgl. Baumann u. a. 1998). Die Frauen entscheiden, welches Thema, welche Lebensfrage im Ritual beschrieben und transformiert werden soll. Dabei übertragen sie besondere Ereignisse, Fragestellungen, Erfahrungen auf etwas, was sie in den von ihnen entwickelten spirituellen Feiern und Ritualen selbst vollziehen. Sie stellen ihre Erlebnisse und Fragen in einen spirituellen Kontext, den die Teilnehmerinnen aktiv erfahren und erleben können.
„Frauen erleben sich hier als liturgieschöpferisch und liturgiegestaltend und insofern als Trägerinnen dieser Gottesdienste. Es sind besonders ihre spezifischen Anliegen, die in den gottesdienstlichen Feiern ihren Platz finden: Wo sonst finden Frauen Aufnahme als mißbrauchte und vergewaltigte Frauen, als Frauen, die Kinder durch Fehlgeburten und Totgeburten verloren haben, als kinderlose oder alleinerziehende Frauen, als Frauen in der Doppelbelastung von Familie und Beruf, als alleinlebende, als in hetero- oder homophilen Beziehungen lebende und als alternde Frauen, als Frauen in Lebenskrisen, als Frauen in der Auseinandersetzung mit der Amtskirche, als denkende und fühlende Frau?“ (Jeggle-Merz 2000, 364 f.).
In diesen gottesdienstlichen Feiern wird nicht nur bislang Unerhörtes zur Sprache gebracht, es geschieht auch etwas: Heilung, Befreiung, Versöhnung. Sie verändern die Teilnehmenden und die Situationen, in denen diese stehen. Die liturgischen Feiern und Rituale werden so zu wirkmächtigen Zeichen. Und die Nachfrage nach dem Thema Ritual erweckt den Anschein, als seien sie in einer immer komplexeren und unübersichtlicheren Welt notwendig, wie eh und je.
1.1.2 Lebensentwürfe und Selbstbilder von Frauen im Wandel. Ambivalenzen – Herausforderungen – Überforderungen
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Gesellschaft und damit ihre Sozialstruktur, ihre Kultur und das Leben der Individuen massiv verändert. Diese Veränderungen haben zur Konsequenz, dass die unterschiedlichen Systeme und Welten in der Gesellschaft immer beweglicher werden. Die entfaltete Moderne verändert die gesamtgesellschaftlichen Strukturen grundlegend und sie macht vor dem Raum der Kirche nicht halt. Die Modernisierung der Gesellschaft setzt sich dabei systemisch auf der Ebene der individuellen Lebensführung und Lebensgestaltung fort. Dieser Prozess wird in der Soziologie unter dem Stichwort „Individualisierung“ behandelt und beschreibt die neue Form der Vergesellschaftung des Individuellen (vgl. Beck 1998; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Sennett 1998). Alle gesellschaftlichen Anforderungen und Regelungen, vom Arbeitsmarkt bis hin zu den sozialstaatlichen Unterstützungen, sind auf die Einzelpersonen hin orientiert und erwarten deren aktive Beteiligung. Diese Entwicklung birgt Chancen und Lasten für die/den Einzelne(n). Es ist ein ambivalenter Prozess, mit enormem Freiheitsgewinn, seitdem der eigene Lebensweg nicht mehr von Ordnungen und Rollen der traditionellen Gesellschaft abhängig und vorbestimmt ist. Dabei tun sich für die Individuen eine Fülle an Möglichkeiten auf, sodass jede und jeder ihren/seinen Lebensweg gestalten kann. Die Biografie des/der Einzelnen ist nicht mehr determiniert und durch Familie, Milieu und Tradition bestimmt. Sie ist zu einem selbst zu verantwortenden Projekt von Individuen geworden. Dabei hat das Individuum auf die unterschiedlichsten Anforderungen von außen zu reagieren. Dies bedingt, dass die Arbeit an der eigenen Biografie zu ersetzen hat, wofür ehemals die sozialen Bindungen in den Milieus zuständig waren: nämlich Haltepunkte und Orientierungen in der Welt zu geben (vgl. Gabriel 31994, 80–119).
Der Prozess der Individualisierung wird von der Pluralisierung der Lebensformen und Möglichkeiten begleitet. Die Lebensstile und Weltanschauungen werden vielfältiger und für so manche(n) auch unübersichtlicher. Diese Entwicklungen der Individualisierung und Pluralisierung bedeuten nicht den gänzlichen Untergang traditioneller Deutungsmuster, sondern sie verlieren vielmehr ihre unhinterfragte normative Gültigkeit, die sie vormals für eine Gruppe besaßen. Deutungsmuster werden nicht mehr länger von einem kollektiven Milieu ausgebildet. Andere Ansprüche, Weltsichten und Werte treten hinzu und das Individuum hat nun die Möglichkeit und die Aufgabe, aus einem Set von Anschauungen zu wählen. Dies bedeutet für die alten Werte und Ordnungen, dass sie sich in Konkurrenz zu neuen Werten gestellt sehen und in der Regel nun auch einer Prüfung unterzogen werden. Was vormals nicht zu hinterfragen war, wird nun zu einem Objekt der Wahl. In einer pluralisierten Welt werden Entscheidungskompetenzen immer pluraler und dezentraler. „Die Moderne kann daher in aller Vorläufigkeit mit drei Schlagworten charakterisiert werden: Individualisierung der Lebensführung, Verlust traditioneller Sicherheiten sowie funktionale statt traditionale Differenzierung der Gesellschaft. Anders gesagt: Freisetzung des Individuums, Entzauberung der Welt und Aufhebung ständischer Organisationsmerkmale kennzeichnen die Moderne“ (Bucher 1999, 94).
Die neuen (Wahl-)Möglichkeiten bedeuten für