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mit jenen der UdSSR, wobei sie den Interessen der Sowjetunion in der Praxis zunehmend Priorität einräumten – entsprechend dem schon unter Stalin geltenden Grundsatz: «Was gut ist für die UdSSR, ist gut für den Kommunismus.»

      (7) Die Frage, ob der Weg zur Errichtung des Sozialismus auf der ganzen Welt ein evolutionärer oder ein revolutionärer sein würde, wurde von Chruščev anders beantwortet als von seinen Vorgängern.197 Um trotz der Doktrin der Friedlichen Koexistenz weiterhin am grundsätzlichen ideologischen Ziel des weltweiten Sieges des Kommunismus festhalten zu können,198 brach Chruščev mit der These vom notwendigerweise gewaltsamen Übergang zum Sozialismus199 und stellte stattdessen die Behauptung auf, dass eine kommunistische Revolution auch mit rein friedlichen Mitteln – das heisst auf parlamentarischem Wege – bewerkstelligt werden könne. Diese Haltung fand 1961 Eingang ins neue Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: «Die Kommunisten waren nie und sind auch heute nicht der Auffassung, dass der Weg zur Revolution unbedingt über Kriege zwischen den Staaten führt. Die sozialistische Revolution hängt nicht unbedingt mit einem Krieg zusammen. Obwohl beide von den Imperialisten entfesselten Weltkriege mit sozialistischen Revolutionen endeten, sind Revolutionen durchaus ohne Krieg möglich. Die grossen Ziele der Arbeiterklasse können ohne einen Weltkrieg erreicht werden. Heute sind die Bedingungen dafür günstiger denn je. […] Unter den modernen Verhältnissen hat die Arbeiterklasse mit ihrer Vorhut an der Spitze in einer Reihe von kapitalistischen Ländern die Möglichkeit, […] die Staatsmacht ohne Bürgerkrieg zu erringen […]. Wenn sich die Arbeiterklasse auf die Mehrheit des Volkes stützt und den opportunistischen Elementen, die von der Politik des Paktierens mit den Kapitalisten und Gutsherren nicht lassen können, eine entschiedene Abfuhr erteilt, kann sie den reaktionären volksfeindlichen Kräften eine Niederlage beibringen, eine stabile Mehrheit im Parlament erringen und dieses aus einem Instrument zur Verteidigung der Klasseninteressen der Bourgeoisie in ein Instrument des werktätigen Volkes verwandeln; sie kann den ausserparlamentarischen Kampf der breiten Massen entfalten, den Widerstand der reaktionären Kräfte brechen und die notwendigen Voraussetzungen für eine friedliche Verwirklichung der sozialistischen Revolution schaffen.»200 Chruščev war der Überzeugung, dass der Kommunismus sich in einem friedlichen Wettstreit der Gesellschaftssysteme weltweit durchsetzen werde. Diese Überzeugung beruhte auf seinem Glauben an die grundsätzliche Überlegenheit des kommunistischen beziehungsweise sozialistischen Systems: «Wenn wir davon sprechen, dass im Wettbewerb der zwei Systeme – des kapitalistischen und des sozialistischen – das sozialistische System siegen wird, so bedeutet das keineswegs, dass der Sieg durch die bewaffnete Einmischung der sozialistischen Länder erreicht wird. Unsere Zuversicht in den Sieg des Kommunismus gründet sich darauf, dass die sozialistische Produktionsweise gegenüber der kapitalistischen entscheidende Vorteile besitzt. Eben darum dringen die Ideen des Marxismus-Leninismus immer tiefer ins Bewusstsein breiter Massen der Werktätigen der kapitalistischen Länder ein, wie sie ins Bewusstsein von Millionen Menschen in unserem Lande und in den Ländern der Volksdemokratie eingedrungen sind.»201

      Der friedliche Übergang zum Sozialismus wurde von der sowjetischen Führung nun nicht nur für möglich gehalten, sondern klar bevorzugt. Gleichzeitig wies sie allerdings darauf hin, dass «Revolutionskriege und Volksaufstände» weiterhin «nicht ausgeschlossen» seien,202 müsse doch damit gerechnet werden, dass «die herrschenden Klassen die Macht nicht freiwillig abtreten»203 und «gegen die Völker Gewalt anzuwenden versuchen»204 würden. Deshalb wurde die Forderung aufgestellt, dass alle kommunistischen Revolutionäre prinzipiell darauf vorbereitet sein müssten, den Übergang zum Sozialismus nicht nur mit friedlichen, sondern auch mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen: «Der Erfolg des Kampfes der Arbeiterklasse für den Sieg der Revolution wird davon abhängen, inwiefern sie und ihre Partei es lernen, sich aller Formen des Kampfes zu bedienen, der friedlichen wie der nichtfriedlichen, der parlamentarischen wie der ausserparlamentarischen, und ob sie zur schnellsten und überraschendsten Ersetzung einer Kampfform durch eine andere bereit sind.»205

      Um seine These von der nun bestehenden Möglichkeit, den Klassenkampf gegen die Kapitalisten auch ohne gewaltsame Konfrontation zu gewinnen, ideologisch zu untermauern, versuchte Chruščev, sie auf Lenin zurückzuführen,206 was allerdings fragwürdig erscheint angesichts der Tatsache, dass Lenin stets die Wichtigkeit der Rolle des Kriegs für die kommunistische Revolution betont hatte.207 Chruščev scheint sich dieser Problematik selbst bewusst geworden zu sein, grenzte er sich doch später eher von Lenin ab, indem er betonte, man könne heutzutage aufgrund der veränderten Weltlage nicht mehr einfach mechanisch wiederholen, was Lenin vor vielen Jahrzehnten gesagt habe.208

      (8) Die Ansichten bezüglich der über den Ausgang eines Kriegs entscheidenden Faktoren unterlagen während der Ära Chruščev einem Wandel.209 Von 1953 bis 1959 galten grundsätzlich unvermindert die von Stalin als «ständig wirkende Faktoren» bezeichneten Einflüsse als entscheidend. Allerdings rückte man nun von deren Verabsolutierung beziehungsweise Dogmatisierung ab und trennte sich – im Zuge der Entstalinisierung – auch von der bisherigen Formulierung. Statt von den «ständig wirkenden Faktoren» wurde ab 1956 meistens schlicht von den «entscheidenden Faktoren im Krieg» gesprochen. Und anstelle der stereotypen Aufzählung der fünf von Stalin definierten Faktoren war nun in allgemeinerer und flexiblerer Form von den drei Faktoren «wirtschaftliches Potential», «moralisches Potential» sowie «militärisches Potential» eines Landes die Rede.

      Mit «wirtschaftlichem Potential» meinten die Sowjets jene Einrichtungen eines Staates, welche den Streitkräften die zur Kriegführung erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Die Hauptelemente dieses Potentials sind die Industrie und das Transportwesen. Aus sowjetischer Sicht war es in einem modernen Krieg von zentraler Bedeutung, dass die militärische Produktion und Versorgung während des gesamten Verlaufs dieses Konfliktes aufrechterhalten werden konnte. Dies deshalb, weil die zu erwartenden massiven Nuklearschläge voraussichtlich einen Grossteil des vor Kriegsbeginn bereitgestellten Materials zerstören würden, der Krieg jedoch trotzdem von langer Dauer sein würde. Als das wichtigste Mittel, um das fortgesetzte Funktionieren der «Militärwirtschaft» in Kriegszeiten zu ermöglichen, erachteten die Sowjets – neben militärischen Abwehrmassnahmen – eine möglichst dezentrale Verteilung der Industrie. Hierzu fügten sie an, dass die Voraussetzungen für eine Streuung der Produktionsstandorte in sozialistischen Staaten dank der dort vorherrschenden Planwirtschaft sehr viel besser seien als in kapitalistischen Staaten, wo sich die «Monopole» einem solchen Vorhaben widersetzen würden. Die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems beschränkte sich nach Ansicht der Sowjets übrigens nicht nur auf den eben genannten Bereich, sondern war eine generelle. So behaupteten sie, bei gleichem wirtschaftlichem Gesamtpotential sei das militärwirtschaftliche Leistungsvermögen eines sozialistischen Staates immer grösser als jenes eines kapitalistischen Staates.

      Wie dem «wirtschaftlichen Potential» kam nach sowjetischer Auffassung im Zeitalter von Nuklearkriegen auch dem «moralischen Potential» eines Landes erhöhte Bedeutung zu: Angesichts der verheerenden Auswirkungen von Atomwaffen, von denen höchstwahrscheinlich auch das Hinterland der kriegführenden Staaten betroffen sein würde, wären die Anforderungen bezüglich Standhaftigkeit, Ausdauer und Disziplin sowohl an die Truppe als auch an die Zivilbevölkerung in einem zukünftigen Krieg extrem hoch. Damit ein Volk diese Anforderungen erfüllen konnte, war es in den Augen der Sowjets unabdingbar, dass sich dieses voll und ganz mit den Kriegszielen seiner Regierung identifizieren konnte. Diesbezüglich seien die sozialistischen Länder gegenüber den kapitalistischen klar im Vorteil, denn die Moral der Streitkräfte eines Staates mit einer «fortschrittlichen» gesellschaftlichen und politischen Ordnung, welcher einen «gerechten Krieg» führe, werde immer höher sein als die Moral der Streitkräfte eines Staates mit einem «reaktionären» System, welcher einen «ungerechten, aggressiven Krieg» führe.

      Unter «militärischem Potential» schliesslich verstanden die Sowjets Quantität, Qualität, Aufstellung von sowie Reserven an militärischem Personal (Mannschaft und Kader) und Material (vor allem Waffen). Da sie der Überzeugung waren, dass ein zukünftiger Krieg zwischen Weltmächten lange dauern und äusserst verlustreich sein würde, betonten sie nun vor allem die gestiegene Wichtigkeit des ununterbrochenen Nachschubs an Waffen und Munition sowie von zahlenmässig

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