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Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
Читать онлайн.Название Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?
Год выпуска 0
isbn 9783039197996
Автор произведения Hans Rudolf Fuhrer
Жанр Документальная литература
Серия Der Schweizerische Generalstab
Издательство Bookwire
Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass Chruščev diese Arten von Krieg zwar für vermeidbar, aber keineswegs für ausgeschlossen hielt.224 Als «am wahrscheinlichsten» bezeichnete er Kriege «der Imperialisten» gegen die sozialistischen Staaten,225 denn anders als Stalin, der zu Beginn der 1950er-Jahre die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Ländern sowie die Unvermeidbarkeit von innerkapitalistischen Kriegen hervorgehoben hatte, behauptete Chrušˇev nun, die Widersprüche zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager seien gegenwärtig grösser: «Natürlich bestehen auch jetzt unter den imperialistischen Ländern akute Gegensätze und Antagonismen, besteht der Wunsch, sich auf Kosten anderer, schwächerer Länder zu bereichern. Die Imperialisten müssen aber dabei die Sowjetunion und das ganze sozialistische Lager im Auge behalten, und sie hüten sich, untereinander Kriege anzuzetteln. Sie sind bestrebt, ihren Differenzen die Schärfe zu nehmen. […] Kriege werden hauptsächlich von den Imperialisten gegen die Länder des Sozialismus und vor allem gegen die Sowjetunion als den mächtigsten sozialistischen Staat vorbereitet. Die Imperialisten möchten unsere Macht erschüttern und damit die einstige Herrschaft des Monopolkapitals wiedererrichten.»226
Wie im eben angeführten Zitat beispielhaft zum Ausdruck kommt, begründete Chruščev seine These von der Vermeidbarkeit kapitalistischer Kriege mit den stark gestiegenen Einflussmöglichkeiten des «sozialistischen Lagers» in der Welt: Die friedliebenden Kräfte seien nun – anders als vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – mächtig genug und verfügten über die nötigen Mittel, um «die Imperialisten» davon abzuhalten, Kriege zu beginnen.227 Tatsächlich war es jedoch nicht so sehr diese Verschiebung in der Machtkonstellation zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager gewesen, welche den ideologischen Wechsel zur Doktrin der Vermeidbarkeit von Krieg ausgelöst hatte, sondern vielmehr Chruščevs Bedürfnis, die Ideologie mit der auf die Verhinderung eines nuklearen Weltkriegs ausgerichteten Politik der Friedlichen Koexistenz in Übereinstimmung zu bringen.
Es stellt sich nun noch die Frage, ob Chruščev seine Vermeidbarkeitsthese nur auf die von Kapitalisten initiierten Kriege bezog oder ob er sie auch für die sogenannten «nationalen Befreiungskriege», also für Kriege der «unterdrückten Klassen», als gültig erachtete. Seine Antwort darauf veränderte sich im Lauf seiner Herrschaftszeit: In der ersten Phase von 1956 bis Anfang der 1960er-Jahre scheint er tatsächlich alle Kriegskategorien für vermeidbar beziehungsweise für zu vermeidend gehalten zu haben. Darauf jedenfalls lässt seine stets undifferenziert geäusserte Erklärung, dass «die Kriege» vermeidbar seien, schliessen. Zu Beginn der 1960er-Jahre kehrte Chruščev dann aber – wohl unter dem Eindruck der massiven chinesischen Kritik an der bisherigen Haltung – zur ursprünglichen marxistisch-leninistischen Auffassung zurück und stufte die «nationalen Befreiungskriege» wieder als gänzlich unvermeidbar ein: «Befreiungskriege wird es geben, solange der Imperialismus existiert, solange der Kolonialismus existiert. Das sind revolutionäre Kriege. Solche Kriege sind nicht nur zulässig, sondern auch unausbleiblich, da die Kolonialherren den Völkern nicht aus freien Stücken die Unabhängigkeit gewähren.»228
Die bisherigen Ausführungen legen den Schluss nahe, dass die vollständige Abschaffung von Krieg auch unter Chruščev erst nach dem weltweiten Sieg des Sozialismus für erreichbar gehalten wurde. Dem war jedoch nicht so: Den Sowjets erschien es nun möglich, dass unter gewissen Voraussetzungen «noch vor dem vollen Sieg des Sozialismus-Kommunismus im Weltmassstab der Krieg gänzlich aus dem Leben der Völker verschwinden»229 werde. Die Voraussetzungen dafür wurden dann als gegeben erachtet, wenn sich der Sozialismus im grösseren Teil der Welt durchgesetzt hätte.230
1.3.1.5 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Kriegsverständnisses an die Bedingungen der westlichen «flexible response»-Doktrin unter Brežnev
Nach Chruščevs Sturz im Oktober 1964 bildete sich im Kreml eine «kollektive Führung» mit Leonid Il’ič Brežnev als Parteichef und Aleksej Nikolaevič Kosygin als Regierungschef.231 Die neuen Machthaber – beziehungsweise in erster Linie der sowjetische Generalstab – gelangten Mitte der 1960er-Jahre zum Schluss, dass die USA dem Einsatz von Nuklearwaffen nun abgeneigt seien.232 Dieses Fazit beruhte auf einem – durch die Absetzung Chruščevs ermöglichten und durch die in den Nato-Staaten geführte Diskussion um die Glaubwürdigkeit der US-Nukleargarantie für Westeuropa geförderten – neuen sowjetischen Verständnis des amerikanischen Konzepts der flexiblen Reaktion («flexible response»). Das Konzept der flexiblen Reaktion hatte im Jahr 1961 die starre, auf strategischen Nuklearwaffen basierende US-Abschreckungskonzeption der massiven Vergeltung («massive retaliation») abgelöst und sah vor, einen tatsächlichen oder angedrohten Angriff mit einer an die Bedrohung angepassten Mischung aus konventionellen und nuklearen Potentialen zu beantworten.233 Bis Mitte der 1960er-Jahre waren die Sowjets trotz dieser veränderten strategischen Ausrichtung der USA der Ansicht, dass die Amerikaner und ihre Bündnispartner in einem Krieg in Europa immer taktische Nuklearwaffen und spätestens im Fall einer sich abzeichnenden Niederlage auch strategische Nuklearwaffen zum Einsatz bringen würden. Nun jedoch deuteten die Sowjets das Konzept der flexiblen Reaktion dahin gehend, dass die Nato in einem Krieg in Europa die Anwendung von taktischen Nuklearwaffen so lange wie möglich hinausschieben wolle und dass die Amerikaner – aus Furcht vor Nuklearschlägen gegen ihr eigenes Territorium – nicht mehr länger bereit seien, zum Schutze Europas in jedem Fall strategische Nuklearwaffen gegen die Sowjetunion abzufeuern. Dass die amerikanische Nukleargarantie für Westeuropa in Frage gestellt war, liess sich aus sowjetischer Sicht auch aus dem von den Amerikanern 1964 angenommenen Konzept der garantierten Zweitschlagkapazität («assured second strike capability») ableiten. Dieses konnte als Absage an einen strategischen Erstschlag interpretiert werden beziehungsweise als Indiz dafür, dass die USA nur dann zum Mittel strategischer Nuklearwaffen griffen, wenn sie selbst direkt attackiert würden.
Ausgehend von diesen neuen Vorstellungen über das mutmassliche Verhalten des potentiellen Gegners in einem künftigen Krieg folgerten die Sowjets, dass ein solcher Krieg nicht mehr zwangsläufig zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen ihnen und den Amerikanern führen müsse. Mit anderen Worten: Die – bislang als unvermeidlich erachtete – nukleare Verwüstung der Sowjetunion könne unter Umständen nun verhindert werden. Voraussetzung dafür, dass dieses Ziel erreicht werden konnte, war allerdings, dass die Sowjets auf strategische Nuklearschläge gegen die USA verzichteten und damit das Ziel der vollständigen Zerstörung des kapitalistischen Weltsystems aufgaben. Dieser Schritt wiederum bedingte – wie im Folgenden ausgeführt werden wird – eine teilweise Revision der kommunistischen Kriegstheorie, konkret die Revision der Lenin’schen These, dass Kriege zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten immer von beiden Seiten mit dem Ziel der kompletten Zerstörung des gegnerischen Gesellschaftssystems und unter Einsatz aller verfügbaren Waffen geführt würden.
Abb. 14: Leonid Il’ič Brežnev. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Ogonëk. Jahrgang 1966)
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