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militärischen Zerschlagung der Sowjetunion und des Kommunismus zweifellos noch verstärkt hätte.

      (5) Die vermeintliche Abwendung Stalins von der Konzeption einer weltrevolutionären Mission der Roten Armee ging einher mit einer immer stärkeren – allerdings ebenfalls nur scheinbaren – generellen Ablehnung des Aktes der Aggression:126 Spätestens ab den 1930er-Jahren verurteilte Stalin jeglichen militärischen Erstangriff eines Staates gegen einen anderen Staat. Das Wort «Aggression» [russ. «agressija»], das bis dahin in der russischen Sprache kaum verwendet worden und wenig bekannt gewesen war, hielt nun Einzug in Reden und Schriften der sowjetischen Führung – und zwar stets mit negativer Bedeutung. Diese Entwicklung schien auf eine komplette Abkehr Stalins von der Haltung Marx’, Engels’ und Lenins bezüglich des Aktes der Aggression hinzuweisen. Letztere hatten das Beginnen eines Kriegs ja nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern immer dann befürwortet, wenn es durch die «ausgebeutete Klasse» zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele geschah. Tatsächlich jedoch bedeutete Stalins öffentliches Auftreten gegen jede Form von «Aggression» keine prinzipielle ideologische Kehrtwende. Vielmehr war dieses Auftreten Teil einer momentanen, durch die gerade herrschenden Umstände bedingten Strategie zur Verhinderung eines «imperialistischen» Angriffs auf die Sowjetunion: In den 1930er-Jahren befürchtete Stalin vor allem einen deutschen oder japanischen Angriff auf sein noch ungenügend auf einen Krieg vorbereitetes Land. Er suchte nun die Weltöffentlichkeit für eine rigorose Definition127 und Verurteilung von «Aggression» zu gewinnen und hoffte, auf diese Weise derart grossen Druck auf die potentiellen Aggressoren ausüben zu können, dass diese von einem Angriff auf die UdSSR absehen würden.

      Mit dem Abschluss eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und dem Überfall Deutschlands auf Polen im Spätsommer 1939 fand die auf Kriegsverhinderung ausgerichtete sowjetische Strategie allerdings ein – vorübergehendes – Ende. Die Sowjetunion wurde nun selbst zum Aggressor: Sie griff zuerst Polen und anschliessend Finnland an. Den Vorwurf, ihrer eigenen Definition entsprechend «Aggressionen» begangen zu haben, versuchte die sowjetische Regierung im ersteren Fall mit der Behauptung zu entkräften, dass in Polen infolge des deutschen Einmarsches jede staatliche Ordnung zu bestehen aufgehört habe und die Rote Armee somit die «ostslawischen Brüdervölker» habe schützen müssen.128 In Bezug auf den Sowjetisch-Finnischen Krieg insistierten die Sowjets darauf, dieser sei von den Finnen begonnen worden.129 Letztere Version akzeptierte die Generalversammlung des Völkerbundes jedoch nicht: Die sowjetische Invasion wurde offiziell als völkerrechtswidrige Aggression gebrandmarkt und mit dem Ausschluss der Sowjetunion aus dem Völkerbund geahndet.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg fühlte sich Stalin gegenüber den Westmächten militärisch in einer ähnlich schwachen Position wie in den Jahren vor dem Krieg. Er reagierte darauf wiederum mit einer intensiven Propaganda gegen jegliche Art von «Aggression». So hiess es in der Botschaft des 1950 abgehaltenen Zweiten Weltfriedenskongresses an die UNO: «Keine politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Gründe, keine mit der inneren Situation oder mit äusseren Konflikten in diesem oder jenem Staat in Zusammenhang stehende Ursachen können eine bewaffnete Einmischung irgendeines Staates in die Angelegenheiten eines anderen Staates rechtfertigen. Die Aggression ist eine verbrecherische Handlung jenes Staates, der als erster die bewaffnete Kraft unter irgendeinem Vorwand gegen einen anderen Staat anwendet.»130 Diese Propaganda war übrigens recht erfolgreich – insbesondere während des Koreakriegs Anfang der 1950er-Jahre: In gewissen Kreisen der westlichen Öffentlichkeit fand die sowjetische Brandmarkung der US-Intervention in Korea als «Aggression» grosse Zustimmung, und es wurden die Bemühungen der Sowjetunion für ein weltweit gültiges Verbot jeder Form von «Aggression» unterstützt. Dies wirkte sich zum Teil auch auf die Haltungen von westlichen Regierungen aus.

      (6) Obwohl die Idee des offensiven «revolutionären Krieges» – zumindest in der Öffentlichkeit – nicht mehr erwähnt und offiziell jede Aggression verurteilt wurde, veränderte sich unter Stalin die kommunistische Einstellung zum Beginnen eines Kriegs im Grundsatz also nicht. Das heisst, von der Ideologie her gab es weiterhin nichts, was die UdSSR generell davon abhielt, andere Staaten anzugreifen.131 Die einzigen möglichen Hinderungsgründe blieben das Gebot, dass zum Mittel des Kriegs nur dann gegriffen werden dürfe, wenn das angestrebte politische Ziel nicht auf anderem – insbesondere friedlichem – Wege zu erreichen sei, sowie die Forderung, dass ein Krieg nur dann begonnen werden dürfe, wenn der Sieg in diesem als sicher angesehen werden könne und gleichzeitig der politische Preis für den Sieg nicht als zu hoch eingeschätzt werden müsse.132

      (7) Wie wirkten sich diese drei kriegshemmenden Faktoren nun in der Praxis auf das Verhalten der Sowjetunion aus? Tatsache ist, dass die UdSSR während Stalins Herrschaftszeit (von 1924 bis 1953) «nur» drei Kriege gegen andere Staaten begann, nämlich 1929 gegen China und 1939 gegen Polen sowie gegen Finnland. Diese relative Zurückhaltung ist zum einen – kleineren – Teil darauf zurückzuführen, dass es der Sowjetunion in gewissen Fällen gelang, ihre expansionistischen Ziele mit anderen Mitteln als mit Krieg zu erreichen.133 So erzwang sie die Eingliederung der baltischen Staaten sowie der rumänischen Gebiete Bessarabien und Nordbukowina in die UdSSR im Jahr 1940 hauptsächlich mittels Drohungen. Und die Machtausdehnung auf die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg kam auf dem Wege von Verhandlungen mit den westlichen Alliierten sowie direkter Druckausübung auf die genannten Länder zustande. Allerdings war Stalin – wie schon Lenin – der Meinung, dass das grundlegende Ziel der kommunistischen Bewegung, nämlich die Errichtung des Sozialismus auf der ganzen Welt, allein mit nichtkriegerischen Mitteln nicht zu erreichen sei.134 Von daher wäre eigentlich damit zu rechnen gewesen, dass die Sowjetunion immer wieder Angriffe gegen kapitalistische Staaten unternehmen würde. Dass sie dies nicht tat, hängt mit den anderen oben genannten kriegshemmenden Faktoren zusammen: Entweder hielt Stalin sein Land für militärisch nicht stark genug, um offensive «revolutionäre Kriege» gegen die kapitalistische Staatenwelt erfolgreich auszutragen, das heisst, er war sich des Sieges der Sowjetunion in solchen Kriegen nicht sicher.135 Oder aber er war zur Überzeugung gelangt, dass, falls solche Kriege doch gewonnen werden konnten, daraus zu grosse negative politische Folgen für die Sowjetunion beziehungsweise die kommunistische Bewegung als Ganzes entstehen würden, als dass diese in Kauf genommen werden könnten.136

      (8) Stalins Einschätzungen bezüglich der (Un-)Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Sieges in einem Krieg gegen die kapitalistischen Staaten fussten auf seinen Ansichten über die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheidenden Faktoren.137 Diese Ansichten formulierte er erstmals im Jahr 1918, am deutlichsten jedoch nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Gemäss Stalin wurde der Ausgang eines Kriegs von fünf «ständig wirkenden Faktoren» bestimmt: «Nunmehr wird das Schicksal des Krieges nicht durch solch ein zufälliges Moment wie das Moment der Überraschung entschieden werden, sondern durch die ständig wirkenden Faktoren: die Festigkeit des Hinterlandes, die Moral der Armee, die Quantität und Qualität der Divisionen, die Bewaffnung der Armee, die organisatorischen Fähigkeiten des Kommandobestands der Armee.»138 Der erste dieser Faktoren, die Stabilität des Hinterlandes, bezog sich auf die Zivilbevölkerung eines kriegführenden Landes. Gemeint war zum einen deren moralische Fähigkeit, die Entbehrungen des Kriegs und unter anderem Bombardierungen aus der Luft auszuhalten, sowie zum anderen deren wirtschaftliche Fähigkeit, trotz dem Krieg jene Güter zu produzieren und zu transportieren, welche eine Armee für den Kampf benötigt. Hinsichtlich der Bewaffnung der Armee betonte Stalin aufgrund der im Zweiten Weltkrieg gemachten Erfahrungen zunehmend die Wichtigkeit eines hohen Motorisierungsgrades: «Der gegenwärtige Krieg ist ein Krieg der Motoren. Den Krieg gewinnt derjenige, der in der Herstellung von Motoren die Vorherrschaft erringt.»139 Die Bedeutung der übrigen «ständig wirkenden Faktoren» bedarf keiner zusätzlichen Erklärung ausser jener, dass im letztgenannten Faktor die Bezeichnung «Kommandobestand der Armee» sich nicht nur auf höhere Offiziere bezog, sondern faktisch auf alle militärische Befehlsgewalt innehabenden Personen.

      An der These von den fünf «ständig wirkenden Faktoren» fällt auf, dass Stalin im Unterschied zu Marx und Engels sowie zu Lenin nicht das wirtschaftliche Gesamtpotential eines Staates als Hauptfaktor für den Sieg in einem Krieg nannte. Dies, obschon mindestens drei seiner «ständig

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