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ist, sondern an der Angemessenheit des generalisierenden Behauptens selbst.

      Zugleich macht die Verwendung des Begriffes der „postsowjetischen Identität“ doch einen Sinn, wenn man sich der Konstruktqualität des Begriffes bewusst ist und „postsowjetische Identität“ nicht als einen Begriff zur treffenden Beschreibung der gesamten gesellschaftlichen Realität versteht, sondern ihn im Sinne Max Webers als idealtypischen Begriff25 verwendet, durch welchen wesentliche, meist neue Merkmale der sozialen Wirklichkeit – möglicherweise mit überzeichnender, ja utopischer Prägnanz – herausgehoben und in ein ordnendes System eingebracht werden. Der Idealtypus ist, wie Weber sagt, eine “gedankliche Konstruktion”, keine empirisch vorfindliche Ausprägung einer Form, sondern ein durchaus einseitig übersteigerndes Beobachtungsprodukt, welches im Wirrwarr des unüberschaubaren Konzertes der Phänomene das Stimmige herausstellt. Der Idealtypus steht zur Wirklichkeit in einem selektiven Vehältnis, er schneidet heraus, was sich zu einer Einheit unter der Prämisse einer voraus angenommenen Sinnhaftigkeit zusammenfügen lässt.

      Gewonnen wird dadurch zum einen ein Instrument, ein Medium zur Analyse der sozialen Realität, quasi ein spezifischer Blick auf das Gegebene, der Besonderheiten in Erscheinung treten lässt, die ohne ihn nicht sichtbar würden, zum anderen ein richtungsweisender Ansatzpunkt für Hypothesen, der die Basis für Forschungskonzepte und für kulturvergleichende Betrachtungen bilden kann.26 Der Idealtypus ist ein Instrument des Vergleichens, er kann der empirischen Wirklichkeit in vergleichender Weise gegenübergestellt werden, um einzelne Phänomene infolge ihrer Ähnlichkeit mit dem Gesetzten hervortreten zu lassen und sie dadurch zu bestätigenden Momenten der idealtypischen Konstruktion zu qualifizieren. In diesem Sinne verstehen wir die Konstruktion einer „postsowjetischen Identität“ als eine idealtypische Begrifflichkeit,

      Der Idealtypus der „postsowjetischen Identität“ ist zum einen jene Folie, die an die beobachtete Wirklichkeit der postsowjetischen Realität angelegt wird, um zu entdecken, was sich zu einem stimmigen und damit hintergrundsreichen Typus zusammenfügen lässt, er ist aber auch selbst der Revision durch die Praxis des Vergleichens ausgesetzt, insofern das, was mittels seiner Anwendung zum Vorschein kommt, auch auf ganz anderes hindeuten kann als das vorab Angenommene. Insofern unterliegt der Idealtypus einem Mechanismus der hermeneutischen Selbstkorrektur; die Prüfung der Ähnlichkeiten kann auch etwas entdecken lassen, was dem Kriterium des Ähnlichen gar nicht entspricht, sondern den Forschenden aus anderen Gründen “ins Auge springt” und sie womöglich veranlasst, den Idealtypus um Neues zu bereichern oder zu korrigieren. Daher soll der Idealtypus nicht als ahistorisches Instrument der Analyse verstanden werden, sondern als eine in der Auseinandersetzung mit der zu analysierenden Wirklichkeit mitwachsende Konstruktion.

      Der Idealtypus erlaubt, eine sinnhafte Stimmigkeit (im Sinne von Webers Begriff der Rationalität) sozialer Phänomene ausfindig zu machen, indem er vorab schon annimmt und sich dementsprechend formiert, dass soziale Phänomene aufeinander derart Einfluss nehmen, dass sich eine solche Stimmigkeit über die Zeit hinweg herausbildet. Sie unterliegen einer Rationalität gegenseitiger Vereinbarlichkeit, die sich den Zwängen gesellschaftlicher Selbstorganisation verdankt.27 Dies postulieren wir ebenfalls, wenn wir den Begriff einer „postsowjetischen Identität“ als idealtypisches Instrument den Analysen in diesem Buch zugrunde legen.

      Die Entwicklung solcher Stimmigkeit braucht Zeit, wie jegliche Selbstorganisationsprozesse Zeit benötigen, um ein funktionierendes strukturelles Ergebnis hervorzubringen. Diese Zeit umfasst im Blick auf die Chance, unter den Bedingungen der neuen Realität in den postsowjetischen Gesellschaften soziokulturelle Formationen hervorzubringen, die gesellschaftlich als „erfolgreich” wahrgenommen werden können, nun drei Jahrzehnte seit dem Ende der Sowjetunion. Es lässt sich daher annehmen, dass in der Bewältigung der Krisen und der Kompensation der Verluste im gesellschaftlichen Leben und in den kulturellen Errungenschaften neue Sinnschöpfungen und Ordnungen im Entstehen begriffen sind, die sich zumindest wahrnehmen lassen.

      Sicherlich bleibt der Begriff der „postsowjetischen Realität“ in jenem Sinne immer „verfänglich“, dass er mit der epochalen faktischen Wirklichkeit postsowje-tischer Staaten heute gleichgesetzt wird und damit in den Anspruch gestellt wird, einen „Realtypus“ möglicher sozialer Wirklichkeit zu kennzeichnen. Auch bleiben real- und idealtypische Anwendungen des Begriffs nicht selten vermischt oder werden ohne systematisch konsequente Abgrenzung in eins gesetzt. In solcher Praxis werden gewissermaßen die Eigenheiten des „Blickes“ mit jenen der beobachteten Wirklichkeit vertauscht, die Heuristik mit den analytischen Ergebnissen selbst verwechselt, der idealtypische Begriff wird ontologisiert. Wissenschaftliche Sorgfalt muss aber darauf zielen, in ihren beschreibenden, ordnenden und analysierenden Operationen und in der Verbindlichkeit all ihrer Aussagen über die Wirklichkeit die Grenzen eines idealtypischen Begriffs zu beachten und sich der relativierenden Konstruktivität ihres begrifflichen Instrumentariums bewusst zu bleiben. Dies ist eine Aufgabe stetiger Rückbesinnung auf den Ausgangspunkt der idealtypischen „Kreation“, bei deren Erfindung noch die entdeckende Eigenleistung klar wahrgenommen und die Beschränkung des eigenen Blicks beim „Heraussehen“ des Typischen unschwer zu reflektieren war.

      Bei der Lektüre dieses Buches tut daher der Leser, die Leserin sicherlich gut daran, die beschreibenden und erklärenden Aussagen zur postsowjetischen Identität auf ihre idealtypischen Vorannahmen hin zu untersuchen und die impliziten typologisierenden Raster soweit als möglich zu identifizieren, die die wissenschaftliche Beobachtung geleitet haben. Er/sie wird dabei feststellen, dass in den verschiedenen Beiträgen in diesem Buch keineswegs das immer gleiche Modell des Idealtypus bzw. die gleichen Typologien zur Anwendung gebracht werden, vielmehr eine der wesentlichen Leistungen der wissenschaftlichen Produktivität gerade darin besteht, im Anschluss an die schon bestehenden immer neue idealtypische Semantiken hervorzubringen und zur Diskussion zu stellen. In diesem Sinne wünschen wir dem kritischen Leser, der kritischen Leserin eine spannende und den Blick immer neu schärfende Lektüre.

      Literaturverzeichnis

      Chakkharat, Pradeep/Weidemann, Doris (Hrsg.)(2018): Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen: Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

      Diekmann, Johann (1967): Die Rationalität des Weberschen Idealtypus. Soziale Welt 18. Jahrg., H. 1 (1967), S. 29-40.

      Erikson, Erik H. (1974): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Filipp, Sigrun-Heide (Hrsg.)(1979): Selbstkonzept-Forschung. Probleme, Befunde, Perspektiven. Stuttart: Klett-Cotta.

      Halbach, U. (2002): Der „nicht mehr postsowjetische“ Raum? Rußland in der Wahrnehmung kaukasischer und zentralasiatischer Staaten vor und nach dem 11. September (SWP-Studie, S 24). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. SWP Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit.

      Internet: https://mbm-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-261717

      Lahusen, Thomas (2008): Decay or Indurance: The Ruins of Socialism. In: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. (eds.): What is Soviet now? Identities, legacies, memories. Berlin: Lit.

      Mead, George Herbert (1980): Die soziale Identität. (1913) In. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1. Hrsg. von Hans Joas. Frankfurt am Main: Suhrkamp , S. 241-249

      Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. (1934) Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Mehnert, Klaus (1958): Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach zwölf Reisen in die Sowjetunion 1929-1957. 11. Aufl. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

      Müller, Bernadette (2009): Identität. Soziologische Analysen zur gesellschaftlichen Konstitution der Individualität. Dissertation Universität Graz, Österreich.

      Müller, Bernadette (2011): Empirische Identitätsforschung. Personal, soziale und kulturelle Dimensionen der Selbstverortung. Wiesbaden: Springer VS.

      Neubauer, Walter F. (1976): Selbstkonzept und Identität im Kindes- und Jugendalter. München/Basel: Reinhardt.

      Keupp, Heiner; Höfer, Renate (Hrsg.) 1997: Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt am Main:

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