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Mehrparteiensystem und schließlich in der Umwandlung einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft in eine schichtendifferenzierte kapitalistische Gesellschaft. Mit diesen Veränderungen hängen weitere zusammen, etwa in der Entstehung von neuen Risiken der Lebenssicherung, von Wettbewerb und Konkurrenzverhältnissen, von staatlicher Versorgung zu freien Dienstleistungs-beanspruchung, vom autoritären Geführtwerden zu partizipativem Handeln etc. All diese Veränderungen sind nicht nur von gesellschaftlicher Bedeutung, sondern sie stellen auch individuell neue Anforderungen an die Konstitution der Persönlichkeit, die sich mit diesen neuen Verhältnissen erfolgreich zu arrangieren hat und das eigene Vorankommen wie auch den gesellschaftlichen Fortschritt nun mit anderen Mitteln zu unterstützen gefordert ist.

      Es ist eine historische Binsenweisheit, dass kulturelle Orientierungen ebenso wie soziale Institutionen oder auch schlicht das materielle Lebensumfeld der Menschen nicht von jetzt auf nachher und auch nicht in wenigen Jahren, eher Jahrzehnten gänzlich aufgelöst und durch Alternativen ersetzt werden können. Alles, was Menschen schaffen, beruht auf der (Weiter)verarbeitung dessen, was ihnen zu Händen ist und was sie schon kennen. Niemand kann seine Geschichte einfach abstreifen wie einen Mantel und einen neuen Mantel anziehen, sondern er kann nur in kleinen Schritten restaurieren und ersetzen, was nicht mehr „haltbar” ist. Auch zu Beginn einer neuen Epoche fällt nichts vom Himmel, sondern alles muss neu erworben und erkämpft werden, muss etabliert und stabilisiert werden. Und selbst dort, wo es gelingen mag, das Vorige in sein Gegenteil zu verkehren, bleibt die Gegenwart geleitet von einer vorbestimmten Richtung des Kontrastierens, die sich wiederum dem Vorigen verdankt und dem, was an ihm als änderungsbedürftig galt. Es gibt nichts Neues, dessen Substanz und Ursache nicht letztlich das Alte ist.

      1. Das Postsowjetische als Identitätsträger

      Ob es noch sinnvoll ist, den Begriff des „Postsowjetischen“ überhaupt zu benutzen, wird schon seit der Jahrtausendwende verschiedentlich in Frage gestellt. So wird beispielsweise der Begriff des „postsowjetischen Raums“ schon länger kritisiert, da die geopolitische Einheitlichkeit des ehemals sowjetischen Raumes sich in den so zusammengefassten Ländern nicht mehr feststellen lässt.1 Hier wird freilich postuliert, dass die sowjetische Einheitskonstruktion sich in der gegenwärtigen Lage dieser Länder immer noch, wenn auch in gewandelter Form, „postsowjetisch“ fortsetzen würde. Das ist sicherlich angesichts der so unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern nicht mehr zutreffend. Sinnvoll ist der Begriff des „Postsowjetischen“ aber sicherlich noch dann, wenn man ihn nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit heraus begründet und zur Bezeichnung jener Länder und Kulturen verwendet, die ehemals der Sowjetunion angehörten, auch wenn man vom „Postsowjetischen“ heute nur noch im Plural sprechen kann. Alle so bezeichneten Länder haben dennoch eine vereinigende Geschichte des „gemeinsamen Schicksals“ und haben bis zum heutigen Tage auf den verschiedensten Ebenen das „Erbe“ der Sowjetunion zu bewältigen.

      Wenn also von einer „postsowjetischen Epoche” die Rede ist, so ist zunächst einmal nicht mehr behauptet, als dass eine vorige Epoche – mit bestimmten Strukturen und Eigenheiten – beendet worden ist und – wie könnte es anders sein – auf ihren Trümmern wohl eine neue Epoche im Begriff ist errichtet zu werden. Doch ist ein solches Bild verfänglich: Aus heutiger Sicht mögen für viele die Überbleibsel der Sowjetzeit nur wie Ruinen erscheinen, wie die Säulen, Tempel und Sarkophage des Forum Romanum, die sich Touristen im Bewusstsein historischer Distanziertheit als Relikte einer vergangenen Epoche betrachten. Sehr anders verhält es sich mit den Ruinen der Sowjetzeit: In den postsowjetischen Ländern leben die Menschen in den sowjetischen Ruinen und das Maß an historischer Distanz ist den pragmatischen Zwängen entsprechend wohl eher gering.2 Das Erbe der Sowjetzeit ist „in Gebrauch”, im selbstverständlichen und daher oft auch unhinterfragten Gebrauch. Es mag Forscher*innen möglicherweise leicht fallen, die Merkmale der vergangenen Epoche zu beschreiben, denn über Jahrzehnte hinweg konnten sie beobachtet werden, konnten ihre Strukturen und Eigenheiten wahrgenommen, mit Begriffen erfasst, analysiert und in Kontroversen diskutiert werden3 – doch, was danach kommt, ist erst einmal ein unbeschriebenes Blatt, ein Vakuum des Wissens und der Erklärungen, des Verstehens, der Vertrautheiten und der sicheren Einschätzung und es bleibt schwer zu begründen, welche Sprache der Beschreibung des Neuen und Veränderten angemessen wäre.

      In einer solchen Phase der Ungewissheiten nach etwas zu suchen, das mit sich selbst identisch ist, nach einer Identität, ist im Grunde ein Paradox. Identisch im Sinne eines Bleibenden, einer Konstante, ist allenfalls der Zustand der Ungewissheit selbst. Dieser macht sich bemerkbar in immer wiederkehrenden Verlegenheiten, in der erlebten Konfrontation mit dem Uneinschätzbaren und im Ausbleiben zuverlässiger Lösungen für die anstehenden Probleme. Wenn darüber hinaus etwas gefunden werden soll, das sich zu einer festen Struktur etabliert hat, dann kann dies nur möglich sein im kontrastierenden Rückblick, also nach einer gewissen Zeitspanne seit der Beendigung der vorigen Epoche und nach aufmerksamer Beobachtung der Entstehungsprozesse neuer Strukturen. Diese Beobachtung selbst muss möglicherweise auch neu gelernt werden, will sie nicht voreingenommen durch die Sichtweisen der Vergangenheit nur darauf ausgerichtet sein, im Neuen das Alte wieder zu erkennen. Daher kann eine neue Epoche auch dann erst „gesehen” werden, wenn sie mit neuen Augen gesehen wird.

      So stellt der Auftrag, die für dieses Buch programmatische Ausgangsfrage nach der Existenz und Eigenart einer „postsowjetischen Identität” und den ihr zugrunde liegenden kulturellen Wertorientierungen zu beantworten, möglicherweise angesichts der tatsächlichen kulturhistorischen Realität eine überfordende Aufgabe dar. Mithin kann ein anderer Auftrag möglich sein zu bearbeiten, nämlich, den Stand der gesellschaftlichen Bewältigung einer Aufgabe zu dokumentieren, als die sich die Gewinnung einer neuen Identität nach dem Ende der sowjetischen Identität darstellt. Auch diese Aufgabe impliziert wiederum eine Ausgangsvoraussetzung, die zuerst zu konkretisieren wäre, bevor man sich der Aufgabe selbst zuwenden könnte. Vorausgesetzt wird, dass sich überhaupt eine „sowjetische Identität” konstruieren lässt, die ihre Plausibilität aus der Beobachtung der vergangenen gesellschaftlichen Realitäten in den Sowjetstaaten herzuleiten vermag. Dies geschieht in diesem Buch an vielen Stellen, an welchen neue Phänomene im Kontrast zur Vergangenheit dargestellt werden und die Suche nach neuen Lösungen der gesellschaftlichen Probleme in ihrer Gegensätzlichkeit zu alten Modalitäten artikuliert wird. Auch wenn die Beschreibung einer „sowjetischen Identität” hier nicht systematisch verfolgt warden kann, so klingt doch vielerorts an, was für sie konstitutiv war und im Prozess der Transformation verloren ging.4

      2. Zur Logik des Identitätsbegriffes

      Die Rede von Identität hat Voraussetzungen in vielerlei Hinsicht und zweifellos ist die wichtigste Voraussetzung eine logische, ohne welche der Begriff der Identität in jedem Falle keinen Sinn haben könnte, nämlich die Voraussetzung, dass eine Sache oder eine Person mit sich selbst identisch sein kann, ohne dass diese Aussage nur den banalen Inhalt hat, dass man etwas zweimal mit demselben Begriff bezeichnen kann. Zumeist wird das Mit-sich-selbst-identisch-Sein auf den zeitlichen Aspekt bezogen: Identität behauptet die Stabilität von Merkmalen über die Zeit hinweg. Wir erklären sie uns gern durch Essentialisierung, durch einen „harten Kern” des Ich, durch „unsere Natur”, unseren Charakter. „When people talk about identity,” schreibt Suny, „however, their language almost always is about unity and internal harmonyand tends to naturalize wholeness. It defaults to an earlier understanding of identity as the stable core. Almost unavoidably, particularly when one is unselfconscious about identity, identity-talk tends to ascribe behaviors to given characteristics in a simple, unmediated transference. One does this because one is that.”5

      Die Rede von Identität hat logisch nur einen Sinn, wenn eine Differenz vorausgesetzt wird, durch die zwei zu beobachtende Phänomene verglichen werden und sodann doch als dasselbe in gewisser Hinsicht erkannt werden können. Hierfür seien sechs Varianten aufgeführt:6 sei es eine Differenz in der Zeit (etwas bleibt dasselbe oder kehrt wieder in einen Zustand zurück, den es schon einmal innehatte), sei es eine Differenz im Raum (etwas bleibt dasselbe, unabhängig von den Räumen und Situationen, in denen es auftaucht) sei es eine Differenz der Erscheinung auf unterschiedlichen phänomenalen Ebenen, in welchen doch ein Gemeinsames enthalten ist, sei es eine Differenz der Entitäten, die doch durch

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