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kann.

      Ich hoffe, in der Welt, in der du jetzt bist, geht es dir gut. Und ich hoffe, du vermisst mich nicht so sehr wie ich dich. Das tut nämlich weh. Sehr weh. Merkst du, wie meine Sätze abbrechen. Und kurz werden? Ich höre an dieser Stelle für heute auf, dir zu schreiben, da meine Tränen die Schreibmaschine volltropfen und ich nicht weiß, ob das schädlich ist. Sie ist doch schon so alt.

      Meine Güte, wenn ich jetzt aufhöre, dir zu schreiben, fühle ich mich, als sei ich der einsamste Mensch auf diesem Planeten.

      Beste Freundinnen, bis wir im Altersheim sitzen, mit klappernden Gebissen und im Rollstuhl, auf dass uns nie etwas trennt. Weißt du noch, Robyn, weißt du das noch?

      Goodbye

      Paige

      [00]

      Lieblingsmensch

      Alles auf Anfang.

      Ich habe keine Lust auf die tausend Raketen am Himmel, wenn das Silvesterfeuerwerk heute Abend über Boston stattfindet. Diese Lichter bringen mich dazu, an sie und den Horror der letzten Tage zu denken.

      Mein Leben kann man sich vorstellen wie ein Dominospiel. Eine Reihe düsterer Ereignisse, die unmittelbar hintereinanderstehen. Kommt eines davon in Schwung, bricht alles in sich zusammen. Dominoreaktion.

      ♫

      Alles hat mit diesem Typen angefangen.

      Nein, nicht mit meinem Typen. Es war ihr Typ. Sie ist intelligent, ­humorvoll, das schönste Mädchen, das ich kenne, meine beste Freundin und mein Lieblingsmensch. Robyn ist ihr selbst gewählter Vorname.

      Robyn.

      Die, die nicht den Mund hält, wenn jemand etwas sagt, das ihr nicht passt.

      Die, die sich im Matheunterricht die Nägel feilt und aus dem Fenster den Zwölftklässlern auf den Kopf spuckt, wenn sie über die Mädchen lästern, mit denen sie gestern noch hinter der Schule rumgeknutscht haben.

      Die, die sich jeden Morgen auf dem Mädchenklo sieben Zigaretten dreht, während wir zusammen russische Rapper imitieren und ganze Memecompilations nachspielen.

      Die, die sich im Französischunterricht selber Ohrlöcher sticht, weil ihr gerade danach ist.

      Die, die während Klassenarbeiten die ganze Formelsammlung unter ihrem Minirock auf den Oberschenkeln stehen hat.

      Die, wegen der jedem Typen die Kinnlade runterklappt, wenn sie ­lächelt.

      Die, die souverän und für alle anderen verwirrend ihren Style ändern kann, ohne je in eine Schublade zu passen.

      Weil sie Robyn ist.

      Die, die auf Partys zwar nie mit den coolen Kids chillt, aber trotzdem immer wieder von ihnen eingeladen wird, damit Jungs aus den höheren Stufen auch kommen.

      Mädchen, Jungs – Robyn hätte alle haben können.

      Und dann erzählte sie mir blind vor Liebe von ihm. Das war sonst eigentlich gar nicht ihre Art. Das Blind-vor-Liebe-Sein, meine ich. Sonst war sie immer durchschauend, hat die Typen nach ein paar Wochen gekonnt abserviert. Sie servierte jeden ab. Wäre ich ein ehrlicher und kein gefühlsbedachter Mensch, würde ich sagen, Robyn war eine Herzensbrecherin, die zu ihren Gunsten mit den Gefühlen anderer spielte. Aber sie stellte es verdammt gut an. Normalerweise.

      Steven. Das war der Name, den sie seit einiger Zeit öfter in den Mund nahm als die Planung unserer nächsten Auftritte. Sie zeigte mir Fotos von ihm und ihr, erzählte, wie sie ihn in der Bahn ansprach und er dann total süß nach ihrer Nummer fragte. Das war am ersten Novem­ber, am zehnten waren sie ein Paar. Sie stellte ihn mir vor, er war wirklich süß, sie passten perfekt zusammen. Robyn ist eher ein extravaganter, flippiger Typ. Ihre von Natur aus hell­blonden Haare haben bestimmt schon alle Farben dieser Welt gesehen.

      Im November waren sie zu einem kinnlangen Bob geschnitten und kaugummirosa. Den ganzen Monat lief sie mit einer riesigen glitzernden silbernen Haarspange darin herum.

      Im Gegensatz zu Robyn trägt Steven einen Nullachtfünfzehn-Haar­schnitt und Main­stream­klamotten. Wie Robyn hat er blonde Haare und blaue Augen, nur vom Typ etwas dunkler. Er wirkte insgesamt weniger naiv als Robyn.

      Nicht, dass sie das war, das sagte nur ihr äußeres Er­schei­nungs­bild über sie aus.

      Ich denke heute sogar, das war ihre Masche, um von anderen unterschätzt zu werden.

      Er und Robyn waren sofort das Traumpärchen an unserer Highschool. So ziemlich jeder himmelte die beiden an.

      Steven war eine Klasse unter uns und im Basketballteam. Ab diesem ersten November schleppte Robyn mich jeden Samstag und Sonntag zu den Spielen und danach zu den Partys mit.

      ♫

      Da meine und Robyns Mutter in der gleichen Ballettkompanie, dem Lincoln Square Ballet in New York City tanzten, bis wir in die neunte Klasse kamen, kennen wir uns schon, seit wir denken können. Wir mussten oft zusammen die Wohnorte wechseln und wenn unsere Mütter auf Tournee waren, habe ich bei meinem Dad gelebt und sie wurde zu Hause von Nannys betreut, weil ihr Vater ein viel beschäftigter Harvard-Professor ist.

      Es war schon immer so, dass man Robyn nur lieben oder hassen konnte, etwas dazwischen gab es nicht, da sie unglaublich polarisierte. Man konnte sie schon fast als kleinen Star bezeichnen, wie sie da bei den Highschoolevents auf der Bühne stand, mit ihren bunten Haaren, den strahlend blauen Augen und der zierlichen Figur. Insgeheim habe ich sie immer beneidet, sie war der Inbegriff von Coolness. Deshalb stand ich in ihrem Schatten. Immer. Nichts konnte einen rebellischen Menschen wie Robyn überstahlen.

      Robyn und ich liebten es mehr als alles andere, Straßenmusik zu machen, egal wo, egal wann. Von dem Geld, das wir von den Passanten bekamen, kauften wir Futter für das Tierheim in der Nachbarschaft und Bücher, die wir den Leuten im Altersheim vorlasen, weil es Robyns tiefster Wunsch war, Leute und Tiere glücklich zu machen, obwohl sie es mit Menschen unseres Alters meistens nur über kurze Zeit aushielt.

      Es ging uns mit unserer Musik nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, es zu genießen. Zu lachen, tanzen, singen, ausgelassen sein. Sich befreien, sich retten. Und genau das mit anderen zu teilen.

      Das war schon immer das, was Robyn und ich erreichen wollten. Damals in unserem Kindergarten unterhielt Robyn mit ihrem unvergleichlichen Humor die ganze Gruppe und wir träumten vom Popstarleben. Sie nahm Gesangsunterricht, nur vereinzelt, wenn sie gerade gut drauf war. Ich lernte von Dad Klavierspielen und probierte mich eine Zeit lang auch an anderen Instrumenten, von denen meine Mutter mir dringend abriet, da sie zu ihren Yogaübungen nur Klaviertöne und nicht das schrille Quietschen meiner Block­flöte ertragen konnte.

      Wenn ich dann mal aus mir raus kam, hörte Robyn mir aufmerksam zu, ihre dünnen Beine mit den kunterbunt geringelten Kniestrümpfen übereinander geschlagen und die Nägel passend zum Lippenstift in Flieder, Apricot oder Ocker, je nachdem, wie sie aufgelegt war.

      Überhaupt lief alles in ihrem Leben nach ihrer Laune. Wenn sie traurig war, schloss sie sich oft tagelang einfach nur ein und ließ niemanden an sich ran.

      Aber wenn sie glücklich war, dann war die Welt ein bisschen besser, die Sonne schien.

      Robyn meinte immer, ich hätte mehr Talent als sie und würde es nicht nutzen. Insgeheim fühlte ich mich gut, wenn sie so etwas sagte, und doch glaubte ich ihr kein Stück. Sie, die immer perfekt gestylt – ob absichtlich oder nicht – im Mittelpunkt stand, konnte doch nicht ernsthaft meinen, ich hätte mehr Talent. Das waren unbeschwerte Zeiten. Das war unser Lifestyle. Damals.

      ♫

      Robyn und Steven unternahmen auch viel zu zweit. Danach kam sie immer zu mir und erzählte mir, was Steven gesagt hatte. Wir kicherten wie Dreizehnjährige.

      Sie demonstrierte mir, wie er ihre Hand hielt und welche Witze er mit welchem Gesichtsausdruck zum Besten gab. Ein paar Tage später bekam Robyn ihren heiß ersehnten Führerschein und nahm mich auf die erste Spritztour mit. Wir aßen

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