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den Konditoren bei der Arbeit zusehen. Eva bestellte nie aus der Karte. Sie ging jedes Mal an die Theke und verwandelte sich in ein Kind, das sich nicht entscheiden kann, weil ihm die Augen übergehen. Links war die Truhe mit zehn Sorten hausgemachtem Eis, rechts die Vitrine mit Torten für Hochzeit und Kindergeburtstag. Aber das Beste war der lange Tresen in der Mitte: hinter Glas Petits Fours und Törtchen – rund und eckig, Nougat und Baiser, von Cassis bis Pistazie. An der Wand hing ein Schild: Ich mache erst Diät, wenn mir der Schal nicht mehr passt. Beim ersten Mal hatte Eva herzlich über diesen Spruch gelacht, und jedes Mal, wenn sie ihn las, freute sie sich wieder. Auch ohne viel Sport hatte sie nach zwei Schwangerschaften ihre Konfektionsgröße gehalten. In Jeans sah ihr Po noch immer begehrenswert aus, und sie hatte keine Winkearme, das war ihr wichtig. Gut, über den Hüften hatte sie ein wenig zugelegt, aber Korbinian machte keine Bemerkungen, nicht mal mit den Augen. Wegen ihr hatte er seine Ex und die beiden Mädchen verlassen. Am Anfang hatten sie gemeinsam Dessous ausgesucht, damals war er scharf auf Spitze. Irgendwann stand sie wieder allein in der Umkleidekabine. Sie wusste, dass in seinem Waschbeutel neben Aspirin und Pflaster immer ein Kondom steckte. Wenn er von den kurzen Reisen nach Berlin oder Brüssel zurückkam, kontrollierte sie. Es hatte erst einmal gefehlt.

      Eva entschied sich für eine Pfirsich-Maracuja-Schnitte, Barbara nahm nur einen Latte Macchiato. Auf der Fensterbank lagen Zeitungen. Barbara zeigte auf das zwei Wochen alte Magazin, in dem Evas Bildreportage über die Ankunft der Flüchtlinge in München erschienen war, und sagte mit unvergifteter Anerkennung: Echt eine tolle Arbeit! Eva musste das Magazin nicht aufschlagen, sie wusste auswendig, dass ihre Bildstrecke von Seite 12 bis 22 ging. Am Schluss hatte die Redaktion richtig Mut bewiesen, das letzte Foto verstand der Betrachter nicht auf Anhieb. Es zeigte zwei junge Männer, die in einem Zelt knieten und ein Gerät verkabelten – Helfer der Münchner Freifunker versorgten eine Notunterkunft mit WLAN. Eva seufzte und sagte: Ach, weißt du, ich würd’ so gern mehr arbeiten. Aber ich bin ja praktisch alleinerziehend.

      Barbara nickte mitfühlend – es gehörte zur Grundausstattung der Frauensolidarität, sich in diesem Punkt gegenseitig zu bestärken. Eva ließ Vanillecreme auf der Zunge zergehen, dachte wehmütig an den Tag, an dem sie mit ihrer Kamera diese intensiven Momente festgehalten hatte, und klagte weiter: Gerade ist es ganz schlimm. Korbinian reist von einer Talkshow zum nächsten Vortrag. Und wenn er mal hier ist, schreibt er an seinem neuen Buch.

      Barbaras Antwort gefiel ihr nicht. Sie sagte: Sei froh, dass er der Politik ins Gewissen redet. Und Deutschland an seine Verantwortung erinnert. Europa darf keine Festung werden!

      Vor drei Tagen, bei einer Lesung im Kulturzentrum, hatte der Moderator ihren Mann mit den gleichen Worten gefeiert, und Eva war stolz auf ihn. Aber von einer Freundin erwartete sie keine politisch korrekte Analyse, sondern Zuspruch. Und jetzt fing Barbara auch noch von einem anderen Thema an. Es war Herbst, und sie müssten endlich die große Frage klären: welches Gymnasium? Barbaras Tochter Philine ging mit Lennart in die vierte Klasse, die Freundschaft zwischen den Kindern war noch inniger als die zwischen den Müttern. Barbara hatte schon das Max-Joseph-Gymnasium besichtigt, obwohl der Tag der offenen Tür noch lange nicht anstand. Ihr Urteil: schöne Anlage, auch die Klos sind sauber, moderner Computerraum, fahren regelmäßig Preise ein bei Jugend forscht, aber halt die alten Sprachen. Ich weiß nicht recht – Latein schon ab der fünften Klasse?

      Für Eva Moser war klar, dass Lennart aufs Gymnasium gehen würde, dazu brauchte sie nicht auf die Empfehlung seiner Lehrerin aus der Grundschule zu warten. Sie spürte, wie wichtig die Weiche war, die sie jetzt stellen musste für die Zukunft ihres Kindes. Und sie hatte das Gefühl, mit dieser Entscheidung allein zu sein. Von Lennarts Vater hatte sie sich ein Jahr nach der Geburt getrennt, und eigentlich war sie froh, dass er sich nicht groß für seinen Sohn interessierte. Einmal hatte er ein Wochenende mit ihm zelten wollen, aber das hatte sie abgelehnt. Korbinian mischte sich sporadisch und halbherzig in die Erziehung ein. Er wusste nicht, welche Rolle er übernehmen sollte, schwankte zwischen einem Kumpel und dem Hauslehrer des jungen Wilhelm von Humboldt. Das mit den alten Sprachen fände er garantiert gut, aber Lennart war nicht sein Kind. Korbinian konnte Vorschläge machen, mehr nicht. Einerseits war Eva stolz auf ihre Autonomie. Andererseits drückte diese Entscheidung sie schwerer, als sie sich oder gar Barbara eingestehen wollte. Es war ja nicht so wie in der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war. Dort hieß die Alternative Gymnasium oder Realschule, damit hatte es sich. In München gab es so viele Möglichkeiten. Jede Schule pflegte ihr eigenes Profil. Das Gymnasium im Stadtteil war vielleicht nicht das richtige. Gut möglich, dass ihr Sohn auf einer anderen Schule, die mit Bus und U-Bahn zu erreichen war, besser gefördert wurde. Sie sah auf die Uhr und war froh, dass sie seufzen konnte: Ich muss los, mein Herz, freitags macht die Kita blöderweise schon um vier zu.

      Der Weg zu den Isarzwergen führte durch das Innere des Viertels. Vorbei am Architekturbüro, vor dem eine rote Vespa auf dem Gehweg abgestellt war. Ein ehemaliger Milchladen, hinter der Schaufensterscheibe stand Manfreds Schreibtisch mit dem großen Apple, sie winkten sich zu. Korbinian hatte ja schon als Student hier gewohnt. Die Wohngemeinschaft, ein Achtundsechziger-Auslaufmodell, bröckelte in den Achtzigerjahren, und als die Wohnung im vierten Stock wegen eines Streits der Erbengemeinschaft billig zum Verkauf stand, wurde Korbinian auf Drängen und mit finanzieller Unterstützung seines Vaters zum Immobilienbesitzer. Den rumpeligen Dachboden gab’s fast geschenkt dazu, und als Eva einzog, fand sie in Manfred einen genialen Verbündeten, der dieses stickige Gebälk in eine Galerie verwandelte. Im Hof ständerte er Balkone an, aber die kamen erst später, diese Baustelle fiel in ihre Stillzeit mit Maja und war nervenaufreibend. Leider gab es damals noch nicht die Hebamme im Viertel, an deren Schild sie jetzt vorbeiging. Um die Ecke war im Frühjahr der Verein für kulturelle Vielfalt der Mädchen eingezogen. Ein interessantes Angebot, sie würde es studieren, wenn Maja größer war, bestimmt konnte sie davon profitieren.

      Die Erzieherin der Isarzwerge war schon weg, die anderen Kinder alle abgeholt, die Praktikantin wartete genervt auf Eva. Es war zehn nach vier, sie wollte ins Wochenende, hatte Maja schon den Helm aufgesetzt und ihr Laufrad aus dem Unterstand neben dem Trampolin im Hof der Kita geholt. Aber das Kind wusste, dass es erst am Montag wiederkommen würde, deshalb musste es noch zum Hochbeet, wo es winkte und sich fröhlich verabschiedete: Tschüss, Radieschen, wachst schön weiter!

      Vergnügt rollte Maja neben ihrer Mutter her. Ihre Füße trippelten, voller Bewegungsdrang brachten sie das Laufrad in Schwung. Sie steckten in weißen Sneakers, die es auch in Kindergrößen gab. Den Umgang mit der Handbremse beherrschte sie noch nicht. Vor dem Gemüsestand, wo der Bürgersteig schmal wurde, schliffen die Schuhe energisch mit den Kappen über den Asphalt. Begeistert erzählte Maja von dem Koala, der heute die Isarzwerge besucht hatte.

      Der ist so weich und kuschelig. Dieser Bär kommt von gaaanz weit her und versteht nur Englisch. Wir haben seine Sprache gelernt.

      Das Mädchen fuhr schlingernd und wiederholte wie aufgezogen: My name is Maja, my name is Maja, my name is Maja.

      So rollte sie zum Multikulti-Brunnen. Er hieß anders, aber von den Bewohnern des Viertels wurde er nur noch so genannt, und es klang ambivalent. Einerseits war man stolz auf die bunte Mischung der Restaurants rund um den gepflasterten Platz mit dem Brunnen in der Mitte: ein Inder, ein Thailänder, ein Portugiese, alles fußläufig und ohne Parkplatzsorgen zu erreichen. An den Fassaden hatte man nach dem Krieg nicht den Putz abgeschlagen, im Glasscherbenviertel schien dieser Aufwand an Vergangenheitsbewältigung zu groß. Jetzt freuten sich alle über diese frühere Vernachlässigung. Der Türke zeigte, dass die Küche seines Landes weit mehr zu bieten hatte als Döner. Bei Tatami musste man unbedingt reservieren. Und Zeit mitbringen, der japanische Koch rollte jedes Sushi vor den Augen seiner Gäste, neben der Vitrine mit dem rohen, allerdings nicht politisch korrekten Thunfisch.

      Andererseits war nicht nur Eva genervt, dass dieser bunte Platz so viele Touristen anlockte. Schwaben, Preußen, neuerdings Chinesen – für alle erfüllte sich hier das Versprechen von der Vielfalt einer weltoffenen Großstadt. Friedliches Nebeneinander, appetitlich duftend, zu erschwinglichen Preisen. Auch das Gschwerl aus Dachau und Neuperlach hatte den Platz am Brunnen schon auf dem Zettel. Zwischen den Restaurants gab es verschiedene Schwulenläden, mitten in Bayern, diese Minderheit steigerte noch das exotische Flair.

      Eva und Korbinian,

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