Скачать книгу

Und schau dir das an: Das mittlere Management entdeckt sein Herz! Sie zeigt auf einen Mann mit Boardcase und Slimfit-Anzug, der gemeinsam mit dem Schaffner entspannt den Fahrplan studiert, auf der Suche nach einer Ersatzverbindung.

      Unglaublich, sagt Korbinian staunend, das ist ja wie beim Sommermärchen. Nur ohne Trikots und Schwarz-Rot-Gold. In seinem Kopf überlagern sich Bilder: die finsteren aus Ungarn, überstrahlt von der Menschlichkeit in München. Boote auf dem Mittelmeer kurz vor dem Kentern. Die Festung Europa. Und hier öffnet sich das Tor der Hoffnung. Sein Kampf gegen das moralische Versagen der Politik, die vielen Artikel, jetzt haben sie doch etwas bewirkt und harte Herzen erweicht.

      Außerdem fühlt sich Korbinian Moser bestätigt in manch weiterer Überzeugung: Der Österreicher neigt zur Niedertracht. Bayern ist nicht gleichzusetzen mit Deutschland, und München schon gar nicht. Sogar dem Wahnsinn der Bürokraten in Berlin und Brüssel kommen wir bei. Wenn wir nur wollen.

      Der Platz vor dem Bahnhof ist so nichtssagend wie immer. Die Nachkriegsfassade. Angestaubtes Türkis. Kaputte Jalousien vor großen Fenstern. Fahrrad-Zombies an Geländer gekettet. Touristen, große Stadtrundfahrt im Doppeldecker. Aber unter den Oberleitungen der Trambahn taucht eine neue Farbe auf: Lila. Ein Hauch von Kirchentag. Helfer mit lila Westen im Gewusel. Sie tragen Schutzhandschuhe aus Gummi, verteilen Wasser in Plastikflaschen. Apfelkisten, Bananenkartons. Unter einem Zeltdach werden Kleiderspenden sortiert, von Freiwilligen mit Mundschutz. Links Markenklamotten, Cityhemden, noch in Folie verpackt. In der Mitte wird ein breiter Jeansrock hochgehalten, frühe Achtziger. Rechts ein grober Haufen: zerrissene Hosen, speckige Pullover, kaputtes Spielzeug, auch das wurde gespendet. An der Marmorfassade, die das halbscharige Einkaufszentrum verkleidet, lehnt ein Plastikschlitten. Er hat einen Riss.

      Überall Anstecker: Wir helfen. Flüchtlinge werden auf Busse verteilt. Sobald einer voll ist, füllt sich der nächste. Irgendwann steht kein Bus mehr da. Aber immer noch Flüchtlinge. Ein Zug formiert sich, vielleicht dreihundert Menschen, zu Fuß gehen sie Richtung Notunterkunft. Lila Westen vorn, lila Westen hinten. Die Kolonne gerät ins Stocken. Helfer fuchteln, einer zeigt auf eine Gruppe, die ausschert. Zwei Dutzend Männer stürmen den Handyshop. Einer hat sein Bündel unter den Arm geklemmt, ein anderer schiebt einen zerschrammten Koffer vor sich her. Alle brauchen das gleiche: eine SIM-Karte. Als jeder sein Telefon geladen hat, kommt von hinten das Zeichen: Weiter! Die Dachauer Straße runter, dann abbiegen in die falsche Richtung. Nicht zum Maximiliansplatz, sondern nach links. Über die offene Grenze in die Schmuddelecke. Kebab, Wechselstube, Nagelstudio. Die Läden wiederholen sich, dazwischen ein Leihhaus und die Caritas. Ein Stück weiter die Traditionsbrauerei, die ihr Bier noch immer hier braut, wie im 19. Jahrhundert, in teurer Citylage, kein Makler versteht diesen Wahnsinn. Ein Autohaus, das abgerissen werden soll. Im kahlen Verkaufsraum stehen Bierzeltgarnituren, von der Brauerei unbürokratisch zur Verfügung gestellt. Nackte Kabel hängen von der Decke, die Volxküche verteilt Essen. Mit Brot wird Soße von einem Pappteller getunkt.

      Eva Moser war noch nie zu Fuß in dieser Gegend. Auch mit dem Rad meidet sie das Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Es gibt keinen Grund, sich hier aufzuhalten. Da findet sich nichts Schönes, die Straßen sind auf Funktionalität reduziert, sie taugen nur als Schleichweg mit dem Auto, wenn die Innenstadt mal wieder verstopft ist. Links der Bayerische Rundfunk, rechts die CSU. Korbinian Moser sagt sarkastisch: Respekt, du warst im Herz der Finsternis!

      An der Donnersberger Brücke werden Zelte aufgebaut. Irgendwie hat die Stadt Feldbetten beschafft, aus Frankreich. Wo der Mittlere Ring die Bahngleise kreuzt, wo der Verkehr am dichtesten ist, finden 1000 Flüchtlinge eine Notunterkunft. Der Bürgermeister schaut vorbei und staunt. Was seine Bürger schaffen, und wie dankbar die Fremden sind. Ein Syrer möchte unbedingt ein Selfie mit ihm machen, der OB strahlt. Er weiß nicht, wo er weitere Zelte auftreiben soll. Aber jetzt freut sich der Herr der Verwaltung einfach über die euphorische Tatkraft der Helfer.

      Es ist dunkel geworden. Von seinem Balkon kann Korbinian Moser den Efeu im Innenhof nicht mehr erkennen. Wohlig sitzt er in der Wärme, die jetzt genau richtig ist, er braucht keine Jacke. Nimmt noch einen Schluck Gin Tonic. Saugt am Trinkhalm, es gibt ein schlürfendes Geräusch im leeren Glas. Er sitzt links neben Eva und legt seine Hand auf ihre rechte Schulter. Versucht, sie im Sitzen zu umarmen, und sagt überwältigt: Wir sind Weltmeister in Humanität!

      MITTEN IM AUSNAHMEZUSTAND beruhigt der Bürgermeister seine Münchner. In zahllosen Interviews zieht er Grenzen: So lang das Oktoberfest dauert, werden keine Züge mit Flüchtlingen im Hauptbahnhof einlaufen. Und die Zelte der Theresienwiese kommen nicht als Notunterkünfte infrage.

      So steigen sieben Frauen unbeschwert in die U-Bahn. Alle sind um die achtzehn, sie tragen Dirndl von schwarz bis pink. Jede hat lang an ihrer Frisur gearbeitet. Eine Flasche Rosésekt kreist. Der Wagen ist voll, aber das macht nichts. Sie reden, als ob sie unter sich wären.

      Eine schielt in die Bluse der anderen und sagt: Mensch, du hast ja keinen BH an – und hast trotzdem mehr als ich.

      Ich hab halt generell viel.

      Ist Tanja eigentlich bi?

      Sie sagt, sie sei noch Jungfrau.

      Im Chor, als Refrain: Du musst aufhörn, weniger zu trinken!

      Am Michaelibad steht ein junger Mann auf dem Bahnsteig. Schwarzes, leicht gelocktes Haar, verlorener Blick, das Gesicht und die sehnigen Arme begehrenswert braun.

      Mei, schaut der lieb aus! Kommt der aus Afghanistan?

      Hoffentlich haben sich die Italiener auf der Wiesn im Griff!

      VON DER BASSPOSAUNE HAB ICH MIR DEN GOLF GELIEHEN, einen alten Diesel, wir Tiefen halten zusammen. Um halb sieben bin ich in der Hampelmannstraße losgefahren. Halb sieben am Morgen, das ist keine gute Zeit für einen Musiker. Am Samstag schon gar nicht. Bis zu den Fränkischen Philharmonikern sind es fast 300 Kilometer. Sie haben eine Tuba im Orchester, aber für die Alpensinfonie von Strauss brauchen sie eine zweite. Anna-Lena hat gelästert, bis ich ihr erklärt habe, dass es nicht um Johann Strauss vom Donauwalzer geht, sondern um Richard. Dann hat sie gefragt, ob ich bescheuert bin, mir für 150 Euro diesen Stress anzutun. Ich hab gesagt, dass dieses Stück es wert ist.

      Jetzt sitz ich da und hab viel Zeit zu überlegen, wer recht hat. Ich war pünktlich, konnte mich vor der Generalprobe noch einspielen. Mein Platz ist hinten links, von da übersieht man das ganze Orchester. Wir sind tatsächlich 107 Musiker. Bei der Alpensinfonie hat Strauss geklotzt: zehn Celli, acht Kontrabässe, ein Kontrafagott, vier Posaunen. Sogar die Harfe ist doppelt besetzt. Vorn sitzen massenhaft die üblichen Streicher. Richard Strauss, das verwöhnte Münchner Kind aus einer reichen Bierbrauerfamilie, ist nicht auf der Brennsuppen dahergeschwommen. Aber der Aufwand lohnt sich. In dieser Sinfonie treibt er das Schwelgen der Romantik auf die Spitze. Man hört die Klangwolke der Holzbläser und sieht die Nebelschleier, wie sie morgens in der Dämmerung am Berg hängen. Dann lassen es die Posaunen neben mir knacken. Volles Rohr, bei der Bassposaune gibt es sowieso nur zwei Lautstärken: On-Off. Für uns Blechbläser spielt die Alpensinfonie in der Champions League. Deshalb will ich unbedingt hier sitzen. Dumm nur, dass bei der zweiten Tuba am Anfang in den Noten steht: Tacet. Fast eine halbe Stunde darf ich keinen Ton von mir geben. Sonnenaufgang, Wanderung neben dem Bache, Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen – alles ohne mich. Es ist gut, dass in dieser sinfonischen Dichtung nur die einzelnen Abschnitte einen Titel haben. Sonst gibt es keinen Text, der ablenkt, man kann sich ganz in die Musik fallen lassen.

      In aller Ruhe kann ich mir die Umgebung anschauen. Der Saal sieht nach neunzehntem Jahrhundert aus. Die Orgel an der Stirnseite ist verkleidet, als ob sie ein griechischer Tempel wäre. Von der hohen Decke hängen Kronleuchter, unten sind die Sitze mit rotem Samt bezogen. Der erste Rang wird gestützt von Frauenfiguren, die ziemlich nackte Brüste schräg nach vorn quellen lassen. Mindestens C-Körbchen, Anna-Lena wäre eifersüchtig. Ich hätte ihr gern eine Freikarte organisiert. Aber sie hat gesagt, sie will keinen ganzen Samstag für die Alpensinfonie opfern. Ich bin mir allerdings sicher, dass sie auch Nein gesagt hätte, wenn es nur um das Konzert am Abend gegangen wäre. Mit HipHop kann ich sie begeistern, bei klassischer Musik rollt sie die Augen.

      Ein Orchester im Frack passt gut in diesen oberamtlichen Saal. Aber bei der Probe spielt jeder in Zivil,

Скачать книгу