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den Gast­hof also war das die le­ben­di­ge, der Win­ter die tote Zeit, für die Fa­mi­lie da­ge­gen war der Som­mer die tote, der Win­ter die le­ben­di­ge. Va­ter und Mut­ter ge­hör­ten som­mers der Öf­fent­lich­keit, sie wa­ren den Win­ter über Pri­vat­leu­te.

      Die zwei­te Da­seins­form mei­nes Ge­burts­hau­ses ver­band sich am tiefs­ten mit mei­nem We­sen und präg­te es in frü­hen, ent­schei­den­den Zei­ten aus. In die­ser stil­len, lee­ren Ver­fas­sung ge­hör­te das Haus uns, im Som­mer war es uns gänz­lich ent­zo­gen und uns Kin­dern auch Va­ter und Mut­ter. Sie ge­hör­ten mit al­lem, in al­lem der Öf­fent­lich­keit.

      Die Quel­le, der Brun­nen war ei­nes der ewi­gen The­men am win­ter­li­chen Fa­mi­li­en­tisch. In ei­nem Um­kreis, des­sen Ra­di­us un­ge­fähr hun­dert Me­ter be­tra­gen moch­te, tra­ten die Heil­quel­len Ober-Salz­brunns, also die Salz­brun­nen Salz­brunns, ans Ta­ges­licht. Als der ers­te der Ober­brun­nen. Ge­gen­über der Fassa­de uns­res Gast­hofs lag der präch­ti­ge Saal, den man über sei­ner Mün­dung er­rich­tet hat­te. An der Salz­bach ver­bor­gen, zu er­rei­chen auf ei­nem na­hen, schwan­ken­den Bret­ter­steg, lag der Mühl­brun­nen. Er wur­de zu Kur­zwe­cken nicht be­nutzt und war der Be­völ­ke­rung frei­ge­ge­ben. Und, o Wun­der! die drit­te der Quel­len ge­hör­te uns. Ihr um­mau­er­ter Spie­gel lag in­ner­halb der Fun­da­men­te uns­res Gast­hofs. An Heil­kraft dem welt­be­kann­ten Ober­brun­nen gleich, war doch ihr Da­sein da­mals un­be­ach­tet und ruhm­los. Ihr Was­ser wur­de durch eine Pum­pe aus Guß­ei­sen von den gleich­gül­ti­gen Fäus­ten der Kut­scher und Knech­te für den Be­darf der Pfer­de­stäl­le her­auf­ge­holt. Auch wur­de der Ab­wasch da­von be­strit­ten. Noch im Be­reich mei­ner Kna­ben­jah­re ist dann eine vier­te Quel­le auf un­serm Nach­bar­grund­stück ent­deckt wor­den.

      *

      Ich dan­ke es mei­nem Va­ter, dass er mir, dem Flüg­ge­ge­wor­de­nen, we­der einen Fa­den ans Bein ge­bun­den, noch mich ei­nem Auf­pas­ser, ei­nem Prä­zep­tor, über­ant­wor­tet hat. Un­be­hin­dert durf­te ich aus­schwär­men. Das Ers­te und Nächs­te, etwa im spä­ten Herbst, war ein aus­ge­stor­be­ner tem­pel­ar­ti­ger Bau, der som­mers als Wan­del­hal­le diente. Dort freu­te ich mich an dem Hal­len mei­ner Trit­te, wenn ich aus Freu­de an der Wie­der­ge­burt nach dem Schlaf auf und ab rann­te. Die­se of­fe­ne do­ri­sche Archi­tek­tur, schlecht­hin die Ko­lon­na­de ge­nannt, ge­währ­te mir auch bei schlech­tem Wet­ter freie Be­we­gungs­mög­lich­keit, wie som­mers bei plötz­li­chen Re­gen­güs­sen den Kur­gäs­ten. Ei­nen bes­se­ren, schö­ne­ren und auch ge­sün­de­ren Spiel­platz als die­sen, der mir zu­dem ganz al­lein ge­hör­te, gab es nicht.

      Vom Spiel lief ich in den an­sto­ßen­den Brun­nen­saal hin­ab, der im­mer of­fen war, und ließ mir an ei­ner lan­gen Stan­ge von ei­nem der Brun­nen­schöp­fer ein Glas in die kreis­rund um­mau­er­te Tie­fe tau­chen, den pri­ckeln­den Brun­nen schöp­fen und her­auf­ho­len. Sie ta­ten es im­mer mit Freund­lich­keit und Be­reit­wil­lig­keit.

      Mit der Zeit erst be­griff ich, dass ich ei­ni­ger­ma­ßen be­vor­zugt war.

      Der Va­ter mei­ner Mut­ter war obers­ter Lei­ter des Ba­de­orts. Er führ­te den Ti­tel Brun­nen­in­spek­tor, so­dass auch von die­ser Sei­te der Be­griff des Brun­nens sei­ne schick­sal­haf­te Be­deu­tung in un­serm Hau­se be­haup­te­te. Üb­ri­gens hieß ein herr­schaft­li­ches Ge­bäu­de in den Pro­me­na­den der Brun­nen­hof, ein Haus, das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te.

      Der Platz zwi­schen dem Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne und der Ko­lon­na­de, ge­nannt Eli­sen­hal­le, war Zen­trum des Orts. Er wur­de au­ßer­dem noch be­grenzt vom Ba­de­ver­wal­tungs­ge­bäu­de, in dem mein Groß­va­ter Fer­di­nand Straeh­ler, eben der Brun­nen­in­spek­tor, am­tier­te. Auf die­sem Plat­ze hat­ten sich einst mei­ne mi­li­tä­ri­schen Ein­drücke we­sent­lich zu­sam­men­ge­drängt: der Ös­ter­rei­cher mit dem blu­ti­gen Tuch um den Hals, Ge­fan­ge­ne, ras­ten­de Trup­pen und ihre zu­sam­men­ge­stell­ten Ge­weh­re. Hier han­del­ten mei­ne Brü­der ge­gen al­ler­lei Tau­sch­ob­jek­te Kom­miss­brot ein, von hier aus führ­te der gra­de Weg bis zu ei­nem Aus­flugs­ort, der Schwei­ze­rei, den mei­ne Brü­der im Jah­re 66 un­zäh­li­ge Male zu­rück­leg­ten, um, wie schon ge­sagt, jene Ge­fan­ge­nen und Ver­wun­de­ten zu be­treu­en, die man dort­hin ge­legt hat­te. Hier, ne­ben der brei­ten Freitrep­pe, vor dem Gie­bel der Eli­sen­hal­le, vor und un­ter den Ba­sen der do­ri­schen Säu­len, saß auch im Win­ter eine alte knus­per­he­xen­ar­ti­ge Ku­chen­frau, die aus vie­len Grün­den, auch dem der un­um­gäng­li­chen kind­li­chen Nä­sche­rei, nicht aus mei­ner Kind­heit hin­weg­zu­den­ken ist. Von die­sem Platz trat man in die Kur­pro­me­na­den und in den Brun­nen­saal, hier mün­de­te der so­ge­nann­te Pap­pel­berg, eine stei­gen­de Pap­pel­al­lee, die nach Wil­helms­höh führ­te, ei­nem ro­man­ti­schen Burg­bau, dem haupt­säch­lichs­ten Aus­flugs­ort.

      *

      Der durch Jah­re vor­aus­ge­wor­fe­ne Schat­ten des ers­ten Schul­tags ver­dich­te­te sich. Ei­nes Ta­ges nach Weih­nach­ten sag­te mei­ne Mut­ter zu mir: »Wenn das Früh­jahr kommt, musst du in die Schu­le. Ein erns­ter Schritt, der ge­tan wer­den muss. Du musst ein­mal still­sit­zen ler­nen. Und über­haupt musst du ler­nen und ler­nen, weil auf an­de­re Wei­se nur ein Tau­ge­nichts aus dir wer­den kann.«

      Also du musst! du musst! du musst!

      Ich war sehr be­stürzt, als mir die­se Er­öff­nung ge­macht wur­de. Dass ich erst et­was wer­den sol­le, da ich doch et­was war, be­griff ich nicht. War ich doch völ­lig eins mit mir! Nur im­mer so wei­ter zu sein und zu le­ben war der ein­zi­ge, noch fast un­be­wuss­te Wunsch, in dem ich be­ruh­te. Frei­heit, Stil­le, Freu­de, Selbst­herr­lich­keit: warum soll­te man et­was an­de­res wol­len? Die klei­nen Gän­ge­lun­gen der El­tern stör­ten die­sen Zu­stand nicht. Woll­te man mir die­ses Le­ben weg­neh­men und da­für ein Sol­len und Müs­sen set­zen? Woll­te man mich ver­sto­ßen aus ei­ner so voll­kom­men schö­nen, mir so voll­kom­men an­ge­mes­se­nen Da­seins­form?

      Ich be­griff die­se Sa­che im Grun­de nicht.

      Et­was auf an­de­re Wei­se zu ler­nen als die, wel­che mir halb be­wusst ge­läu­fig war, hat­te ich we­der Lust, noch fand ich es zweck­mä­ßig. War ich doch durch und durch Ener­gie und Hei­ter­keit. Ich be­herrsch­te den Dia­lekt der Stra­ße, so wie ich das Hoch­deutsch der El­tern be­herrsch­te. Erst heu­te weiß ich, welch eine gi­gan­ti­sche Geis­tes­leis­tung hier­in be­schlos­sen ist und dass sie, ge­schwei­ge von ei­nem Kin­de, nicht zu er­mes­sen ist. Spie­lend und ohne be­wusst ge­lernt zu ha­ben, han­tier­te ich mit al­len Wor­ten und Be­grif­fen ei­nes um­fas­sen­den Le­xi­kons und der da­zu­ge­hö­ri­gen Vor­stel­lungs­welt.

      Ob ich mich nicht wirk­lich viel­leicht ohne Schu­le schnel­ler, bes­ser und rei­cher ent­wi­ckelt hät­te?

      Vi­el­leicht aber war das Schlimms­te ein See­len­schmerz, den ich emp­fand. Mei­ne El­tern muss­ten doch wis­sen, was sie mir an­ta­ten. Ich hat­te an ihre un­end­li­che, ufer­lo­se Lie­be ge­glaubt, und nun lie­fer­ten sie mich an et­was aus, ein Frem­des, das mir Grau­en er­zeug­te. Glich das nicht ei­nem wirk­li­chen Auss­to­ßen? Sie ga­ben zu, sie be­für­wor­te­ten es, dass man mich in ein Zim­mer sperr­te, mich, der nur in frei­er Luft und frei­er Be­we­gung zu le­ben fä­hig war, – dass man mich ei­nem

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