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Auch in un­serm Haus, das der Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne ist.

      Aber was ist ein Ge­sun­der, was ist ein Kran­ker? Wie­so und wo­her wuss­te ich das? Wie­so wuss­te ich tau­sen­de, aber­tau­sen­de Din­ge, nach de­nen ich kaum ir­gend­je­man­den ge­fragt hat­te? Die un­end­li­che Viel­falt der Er­schei­nun­gen schenk­te sich mir mit Leich­tig­keit, es war al­lent­hal­ben ein hei­te­res Auf­neh­men.

      Ich hat­te am Da­sein un­un­ter­bro­chen lei­den­schaft­li­che Freu­de wie an ei­ner über alle Be­grif­fe herr­li­chen Fest­lich­keit. Ich sträub­te mich, wenn ich sie abends durch den Schlaf un­ter­bre­chen soll­te. Im Ein­schla­fen pack­te mich Freu­de und Un­ge­duld in Ge­dan­ken an den kom­men­den Mor­gen.

      Frei­lich, das Haus war trau­lich und ne­st­ar­tig wohl­tu­end. Aber das Schöns­te dar­an wa­ren die Fluglö­cher. Ich ge­noss sie vollauf, als ich ei­ner schnel­len und selbst­stän­dig frei­en Be­we­gung fä­hig ge­wor­den war. Ich stürz­te des Mor­gens mit ei­nem Sprung und Freu­den­schrei ins Freie; manch­mal wur­de der Schrei nicht laut, son­dern lag nur im über­schäu­men­den Ge­fühl mei­nes gan­zen We­sens. Al­les in der Na­tur schenk­te sich mir: der Gras­halm, die Blu­me, der Baum, der Strauch, die Ber­be­rit­ze, die rote Mehl­bee­re, der Holz­ap­fel, al­les und al­les wur­de mir da­mals zur Kost­bar­keit. Da­bei hat­ten sich be­reits Hö­he­punk­te des Er­le­bens mei­nem Geis­te un­ver­lier­bar ein­ge­prägt. Das He­rum­krab­beln auf ei­nem son­nen­be­schie­ne­nen Ab­hang mit gel­bem Laub und Le­ber­blüm­chen un­ter kah­len Bäu­men war ein sol­cher Hö­he­punkt. Ich hät­te ihn gern zur Ewig­keit aus­ge­dehnt, so wunsch­los, so pa­ra­die­sisch fühl­te ich mich. Aber er blieb eine Ein­ma­lig­keit, ich such­te ver­ge­bens, ihn zu er­neu­ern.

      Und nun auf ein­mal über­kam mich die­se all­ge­mei­ne, ich möch­te fast sa­gen kos­mi­sche Trau­rig­keit. Ich hat­te alle die­se Blü­ten, die da tot und welk über­ein­an­der la­gen, tot ge­macht. Wie­so aber konn­te ich das ge­tan ha­ben? War ich mir doch be­wusst, dass ich aus Lie­be zu ih­nen ge­han­delt hat­te und nicht in der Ab­sicht, ihr Le­ben zu zer­stö­ren oder auch nur ih­nen wehe zu tun. Ich woll­te mir eben doch nur ihre Schön­heit an­eig­nen.

      *

      Der Be­fehl ei­nes mensch­li­chen Got­tes war mei­nes Va­ters Ge­bot.

      Eine Mut­ter wird ihre Klei­nen täg­lich vie­le Male ver­geb­lich mit den Wor­ten er­mah­nen: »Bett­le nicht!« Die ers­ten Wor­te der Kleins­ten sind: »Ha­ben, ha­ben!« Mein Va­ter aber woll­te un­be­dingt ver­mie­den se­hen, dass un­se­re Be­gehr­lich­keit etwa gar den Kur­gäs­ten zur Last fie­le. Ich, ein bes­se­rer klei­ner Adam, hielt mich mit be­ben­dem Ge­hor­sam an sein Bet­tel­ver­bot. Ei­nes Ta­ges kam je­doch ei­nem al­ten Kur­gast, Öko­no­mie­rat Huhn, der Ge­dan­ke, mich mit ei­nem Spiel­zeug zu be­schen­ken, das ich mir sel­ber beim Händ­ler aus­su­chen soll­te. Ich wähl­te einen herr­li­chen blau­en Roll­wa­gen mit Fäs­sern dar­auf und vier Pfer­den da­vor, drück­te das Rie­sen­ge­schenk mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men an mei­ne Brust und ver­moch­te es kaum fort­zu­schlep­pen. Un­ter­wegs nach Hau­se fiel mir des Va­ters Ver­bot aufs Herz. Zwar ge­bet­telt hat­te ich nicht, aber man konn­te es leicht vor­aus­set­zen, und schließ­lich soll­ten wir über­haupt von Frem­den nichts an­neh­men. Bei die­ser Erin­ne­rung schrie ich so­fort aus Lei­bes­kräf­ten, als ob mich das größ­te Un­glück be­trof­fen hät­te. Eine sol­che tra­gi­ko­mi­sche Mi­schung des Ge­fühls in der Brust ei­nes Kin­des ist viel­leicht eine Sel­ten­heit. Un­ge­heu­re Freu­de über den völ­lig mär­chen­haf­ten Neu­be­sitz ward von Ent­set­zen über den Bruch des Ge­hor­sams über­wo­gen. Un­un­ter­bro­chen schrei­end trat ich mit mei­nem Schatz ins Haus und vor mei­ne ver­blüff­ten El­tern hin, die den schein­ba­ren Wi­der­sinn mei­nes Be­tra­gens nicht durch­schau­en konn­ten.

      *

      Den gar­ten­mä­ßi­gen Aus­bau der Kur­pro­me­na­de nann­te man An­la­ge. In die­se An­la­gen führ­te mich täg­lich mei­ne Kin­der­frau, wo­bei uns ein klei­nes Hünd­chen be­glei­te­te. Ich lieb­te es, wie na­tür­lich, sehr. Noch eben hat­te ich mit ihm schön­ge­tan, als es in ein Bos­kett schlüpf­te. Völ­lig ver­än­dert kam es her­aus. Mit hel­ler Keh­le und lan­ger Zun­ge Laut ge­bend, um­kreis­te es ra­send in wei­tem Bo­gen mich und die Kin­der­frau, die mich auf die Arme nahm und das Haus zu er­rei­chen such­te. Das Hünd­chen aber in sei­ner krei­sen­den Ra­se­rei be­hielt uns als Mit­tel­punkt. Al­les wur­de auf den ge­fähr­li­chen Vor­gang auf­merk­sam, wer konn­te, floh, auch mein Va­ter wur­de be­nach­rich­tigt und zog uns schließ­lich durch eine Glas­tür ins in­ne­re Haus, wo wir vor dem wahr­schein­lich von Toll­wut be­fal­le­nen Tier si­cher wa­ren.

      Es war uns bis auf den Haus­flur nach­ge­folgt, wo man es glück­li­cher­wei­se ab­schlie­ßen und also un­schäd­lich ma­chen konn­te. Ich sah durch die Schei­ben sei­nen fort­ge­setz­ten, wü­ten­den To­des­lauf, im­mer im Kreis, über Stüh­le, Ti­sche und Fens­ter­bret­ter hin­weg, ich weiß nicht wie lan­ge, eh man es durch den Tod er­lös­te.

      Ich bin die­sen tie­fen und grau­si­gen Ein­druck bis heut nicht los­ge­wor­den. Und im­mer, wenn spä­ter ei­ner mei­ner Hun­de in ei­nem Bos­kett ver­schwun­den ist, wur­de ich un­ru­hig und habe die Zwangs­vor­stel­lung zu be­kämp­fen ge­habt, er wer­de schäu­mend und ra­send her­aus­stür­zen.

      *

      Ich weiß nicht, wann mir der im­mer­wäh­ren­de Wech­sel von Tag und Nacht, ihre Ge­gen­sätz­lich­keit im Be­reich der Sin­ne, des Emp­fin­dens und der Vor­stel­lung deut­lich ins Be­wusst­sein ge­drun­gen ist und wann sie mir zu be­wus­s­ter Ge­wohn­heit wur­de. Nicht der Tag, aber der Abend und die Nacht so­wie al­les Dun­kel wa­ren mit Furcht ver­knüpft. Ein sol­cher Aus­druck der Furcht war schon das Abend­ge­bet, das mei­ne Mut­ter mich täg­lich im Bett spre­chen ließ:

       Müde bin ich, geh’ zur Ruh’,

       schlie­ße bei­de Äug­lein zu.

       Va­ter, lass die Au­gen dein

       über mei­nem Bet­te sein!

       Alle, die mir sind ver­wandt,

       Gott, lass ruhn in dei­ner Hand …

      und so fort.

      *

      Die Furcht des Kin­des ist Ge­s­pens­ter­furcht. Sein Tag kennt sie nicht, aber nachts, wenn es wach oder halb­wach ist, um­ge­ben es über­all Dä­mo­nen. Da sie, wor­an das Kind nicht zwei­felt, bös­ar­tig sind, gibt man dem ge­ängs­tig­ten Kna­ben, dem furcht­sa­men Mäd­chen die Vor­stel­lung ei­nes Schutz­en­gels.

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