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wenn man sich damit begnügt, die äußere Form der Ausübung dieses oder jenen Experten zu imitieren, sie zu kopieren, ohne zu erkennen zu versuchen, was daran wirklich wertvoll ist und was vielleicht sogar der Experte selbst mißbilligen würde, wenn es ihm nur bewußt wäre. Solche Dinge lassen sich nur durch stetes Forschen ergründen und durch ein inneres Verstehen, das eines Tages unausweichlich daraus resultiert. Dies ist eine Frage der Zeit und des Willens. Die Unterscheidungsfähigkeit kommt mit der Erfahrung. Das ist der Grund, weshalb man die Dinge nach fünf, zehn oder zwanzig Jahren anders empfindet als zuvor. Selbst, wenn man versuchen würde, alles genau zu erklären, ist es nicht sicher, daß man verstanden würde. Das ist der Grund, weshalb ein Buch bestenfalls ein Leitfaden sein kann. Man kann dieses Wissen nicht mit einem Mal auf eine andere Person übertragen.

      Dieses Handbuch enthält eine große Fülle an Details, aus denen der Leser mit der Zeit eine Auswahl treffen kann. Zu Beginn muß man auf alles achtgeben, so getreu wie möglich die geringste Einzelheit kopieren, ohne dabei allzu viele Fragen zu stellen. Nach einigen Jahren der Praxis wird man weiter gehen können. Wer dieses Buch dann von neuem liest, wird mit seiner Hilfe das Grundlegende entdecken, das wichtiger ist als die Form: Das Wesen der Kata, d. h., die Empfindung und der Geist, den ihr Schöpfer durch sie vermitteln wollte. Keine Zeichnung und kein Foto kann das vermitteln. Und doch sollte man darauf vertrauen, daß der beste Weg, zum Wesentlichen zu gelangen, darin besteht, zu Beginn die Form zu respektieren.

      Man steht in natürlicher Haltung (Shizentai), entspannt, mit herabhängenden Armen, den Kopf aufrecht. Gegebenenfalls ist die Haltung entsprechend zu korrigieren. Die Fersen werden zusammengeführt, die Fußspitzen gespreizt (Musubi dachi), die Hände sind offen neben den Oberschenkeln, und man verbeugt sich langsam zum Gruß (Ritsurei) am Ausgangsort der Kata, Kiten, in Richtung der Zentralachse der Kata. Man richtet sich wieentschlossener Stimme den Namen der Kata. Nun wird erst der linke, dann der rechte Fuß ein Stück zur Seite genommen (Hachiji dachi), und man nimmt die Bereitschaftshaltung Yoi ein; die geschlossenen Fäuste werden dabei vor dem Körper gekreuzt. Man ist ruhig und entspannt und steht aufrecht, wobei die Beine leicht gebeugt sind. Die gesamte Kraft konzentriert sich im Hara, der Geist ist aufmerksam (Zanshin), der Blick geht in die Ferne.

      Am Ende der Kata nimmt man die gleiche Haltung ein. Dies ist das Yame bzw. Naore, die Rückkehr in die Position Yoi. Danach werden die Füße in den Musubi dachi zusammengeführt – erst wird der rechte, dann der linke Fuß in Richtung Mitte gesetzt. Man entspannt sich (Yassme) und grüßt wie zu Beginn. Am Ende richtet man sich wieder auf.

      Anmerkung: Manche Experten versetzen sowohl bei der Eröffnung als auch beim Abschluß der Kata lediglich den rechten Fuß, der linke bleibt nach dem Gruß bzw. der letzten Bewegung der Kata an seinem Ort. Im Gôjû-ryû, aber auch in manchen Kata anderer Stilrichtungen – was deutlich die gemeinsamen Ursprünge zeigt – beginnt die Kata oft unmittelbar nach dem Gruß, während man sich noch in der Position Musubi dachi befindet.

      Es ist bedauerlich, daß für viele Karateka die Kata letztendlich nichts weiter bedeutet als eine Abfolge von Techniken, die unter praktischen Gesichtspunkten, der Eignung für den Kampf, beurteilt werden, und dies unter dem Aspekt ihrer offenkundigen Anwendungsmöglichkeiten, der elementaren Bunkai. Solch eine formelle Herangehensweise wirkt sich verarmend auf die Welt der Kata aus. Darüber hinaus geschieht es oft, daß man die Techniken der Kata ausführt, ohne zu verstehen zu versuchen, wie man sie im realen Kampf anwenden kann. Das kann aus der Gewohnheit heraus geschehen oder aus Desinteresse, zumal es oft um nichts weiter geht, als durch das Ausführen der Kata höhere Graduierungen zu erhalten. Manch einer geht sogar so weit, daß er nach einem möglichen Nutzen der Kata gar nicht mehr fragt, überzeugt davon, daß Kata und Kumite sehr verschiedene Angelegenheiten sind. Wird die Kata aber nur noch als sportliche Übung betrachtet, als Krafttraining oder ästhetische Vorstellung, dann besteht die Gefahr, daß sie eines Tages verschwindet. Führt eine Gruppe von Karateka sie vor – mitunter gar zu Musik! –, so ist sie schön und spektakulär anzusehen … und doch nichts weiter als eine sinnentleerte Hülle, dazu bestimmt, von Außenstehenden beurteilt zu werden.

      Im alten Okinawa wurde die Kata im Verborgenen geübt, denn sie mußte für die Vorbereitung auf den Kampf wirksam bleiben. Man sah sich entschlossenen Gegnern gegenüber, und es war von entscheidender Bedeutung, über Techniken zu verfügen, die der Gegner nicht bereits ausspioniert hatte. Man beschränkte sich auf das Wesentliche. Um das zu erreichen, wurden wenig spektakuläre, von allem Überflüssigen befreite Bewegungsabläufe und Haltungen geübt. Die Kata war vor allen Dingen Kampf. Sie war Waffe und innerer Weg, eine technische Grundlage, der eines Tages das Authentische entspringen würde.

      Ginge es lediglich um technische Aspekte, den Kampf, oder um sportliche Aspekte, den Wettkampf im Karate, könnte man mit gutem Grund die traditionellen Kata links liegen lassen. Denn auf technischer Ebene waren diese Kata oft recht beschränkt. So gesehen, ist es gerechtfertigt, neue Kata zu schaffen, die technisch gesehen vollständiger sind, da sie neuartige Situationen berücksichtigen, wie z. B. den Straßenkampf mit in Kampfkünsten erfahrenen Gegnern. Solches geschieht vor allem in vielen in den USA praktizierten Stilrichtungen. Doch hierbei handelt es sich um Karatejutsu, technisches Karate. Für das Karatedô, d. h., dem Karate als Weg, als Lebensphilosophie, wäre ein solcher Kompromiß unmöglich. Hier zählt der Gehalt, der Geist. Es geht nicht an, dessen Gefäß, die Form, zu verändern. Das Ziel der Kata des Karatedô besteht darin, denjenigen, der sie praktiziert, in den gleichen Gefühls- und Geisteszustand zu versetzen wie den Meister, der die Kata einst geschaffen hat. Ein Zustand, den der Meister für wert erachtet hat, durch die »Gebärdensprache« der Kata weitervermittelt zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann das Akzeptieren einer modernen Kata nur eines bedeuten: daß man ihrem Schöpfer den Rang eines Meisters in der vollen Bedeutung des Wortes zuerkennt. Von diesem – durchaus möglichen – Ausnahmefall abgesehen, muß man sich strikt an die alten Formen halten. Die Kata muß so getreu wie möglich und mit einem Vertrauen, das schon an Naivität grenzt, geübt werden. Die Bedeutung dieser grundlegenden Einstellung für den Praktizierenden kann nicht genug betont werden. Was zählt, ist zu wissen, was man will und was man auf dem Weg dahin bereits erreicht hat.

      Die Tatsache, daß die Kata zwei unterschiedliche Aspekte vereint, gestattet vielen Lehrenden, sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen. Aber sie führt auch zur Verwirrung bei den Lernenden, und das schon oft auf dem Niveau der Weißgurte. So gesehen wäre es wünschenswert, wenn in Zukunft in jedem Dôjô klar festgelegt würde, welcher grundlegenden Art die Kata, die hier praktiziert werden, angehören. Hierbei darf natürlich nicht aus dem Auge verloren werden, daß ein jeder im Laufe seiner persönlichen Entwicklung eines Tages seine Vorliebe ändern kann. Dies zu akzeptieren, ohne den Betreffenden deshalb zu ächten, verlangt dem Lehrenden eine Toleranz ab, die auf guter Kenntnis der kulturellen Hintergründe dessen, was er lehrt, beruht, selbst wenn er diese vielleicht nicht in vollem Umfang akzeptiert.

      Im folgenden sollen die drei Stufen erläutert werden, die den Fortschritt beim Praktizieren der Kata charakterisieren. Diese gelten gleichermaßen für das Karatedô als Ganzes.

      Erste Stufe: Man konzentriert sich ausschließlich und gewissenhaft auf die Technik. Man handelt. Schnell bemerkt man, daß man vorankommt, was dem eigenen Ego schmeichelt. Dies ist die Stufe des Shu, der äußeren Imitation. Es ist die verbreitetste Stufe, selbst für höhergraduierte Karateka.

      Zweite Stufe: Man konzentriert sich auf die Technik, indem das Handeln zurückgesetzt wird und indem die den Techniken innewohnenden Möglichkeiten erweitert werden. Äußerlich ist kein Fortschritt mehr sichtbar. Die Form der Kata erscheint sehr gelungen, wenn nicht sogar vollendet. Was die innere Entwicklung angeht, so beginnt man tatsächlich, sein Ego zu vergessen. Dies stellt den Beginn der Entkopplung von Körper und

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