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den Schlüssel einmal gefunden, eröffnen sich unerwartete neue Sichtweisen.

      Früher bezeichnete man die Kata als »unendliche Schätze« oder als »ungeschriebene Tradition«. Die Kata sind uns zusammen mit ihren Geheimnissen überliefert worden, welche die alten Meister der Kunst nicht immer klar anhand der Techniken erklären konnten oder wollten.7 Es ist wichtig, diese Geheimnisse selbst zu entdecken. Dies ist eine Frage des Trainings, des Willens und der Zuversicht.

      Viele alte Kata haben ihren ursprünglichen Sinn verloren. Genauer gesagt, hat man ihn verloren, wie man eine Spur verliert: mangels Aufmerksamkeit oder mangels Verständnis. Meistens ist nur die äußere »Form«8 geblieben, die »Prägeform«, die zu nichts anderem dienen sollte, als dem Wesentlichen Gestalt zu verleihen. Dies ist der Grund, weshalb man auf keinen Fall zulassen darf, daß auch noch die Form verändert wird. Andernfalls wäre alles unrettbar verloren. Die Kata wäre dann nichts weiter als eine Art Gymnastik. Wenigstens die Form muß bleiben. Hartnäckig an der Ausführung der Kata festzuhalten, wie sie in einer Stilrichtung überliefert wurde, bedeutet, sich die Möglichkeit einer Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung offenzuhalten. Die Tür, die dies vielleicht eines Tages ermöglicht, darf sich nicht schließen. In einer Kata kann sich das kleinste Detail – insofern es ursprünglich ist – als wesentlich entpuppen. Als Teil des hinterlassenen Erbes kann es helfen, das Ganze zu verstehen. Es zu vernachlässigen, oder schlimmer noch, zu verändern, bedeutet, die Kata als Ganzes zu treffen. Die Stilrichtung ist so etwas wie ein Führer zu der Idee, die am Anfang der Kata stand. Es ist wahr, daß, selbst im Rahmen einer bestimmten Schule, der Stil sich mit der Zeit und in Abhängigkeit von den jeweiligen Experten entwickelt. Daß ein Experte eine Kata abwandelt, kann u. a. an seinem Körperbau, an bestimmten Vorlieben oder persönlichen Forschungen liegen. Mitunter entstehen auf diese Weise kuriose Mischformen, bei denen es schwierig ist, das Richtige wiederzufinden.

      Immer jedoch wird die Kata zumindest ein physisches Training mit offensichtlichem Nutzen sein. Der Karateka lernt, seinen Körper zu beherrschen, bestimmte Rhythmen zu entdecken, die Atmung richtig einzusetzen, in jedem Augenblick das Gleichgewicht zu bewahren, Schnelligkeit, Kraft und Harmonie in den Bewegungen zu entwickeln. All dies geschieht auf Grundlage des Gedankenguts, das dem Stil zu eigen ist, dem die Kata zugehört. Man muß immer versuchen, bei der Ausführung so genau wie möglich an den Vorgaben der jeweiligen grundlegenden Stilrichtung zu bleiben, selbst wenn das schon bald zu physischen Schwierigkeiten oder mentalen Blockaden führen sollte. Die technische Perfektion ist die Bedingung für die Effektivität. Der Wille, bei seinem Stil zu bleiben, ist etwas Grundsätzliches, vor allem in den Anfangsjahren der Karatepraxis. Dennoch ist das nicht alles, und wenn man sich in dieser Hinsicht sein ganzes Leben lang einschränkt, so ist man dazu verurteilt, niemals zum Wesen der Kunst vordringen zu können.9

      Ein Buch kann mehr oder weniger gut Techniken darstellen, es kann jedoch nicht dazu verhelfen, die tiefen Empfindungen zu entdecken, die für das echte Verständnis einer Kata notwendig sind. Dazu reicht es nicht aus, wie beim Kihon die Bewegungen zu lernen, sondern man gelangt dahin über den Rhythmus einer Kata. Die Kata ist eine Art Bewegungsalchemie, die für denjenigen, der sie exakt ausführt, das innere »gewisse Etwas« wiederentstehen läßt, das jemand eines Tages in einem bestimmten Moment empfunden und für hinreichend wichtig gehalten hat, daß er versuchte, es weiterzugeben. Die Kata ist auch ein Ritus, ein Tanz, über den versucht wird, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen. Doch damit diese Magie funktioniert, bedarf es mehr als nur der äußeren Form, selbst, wenn diese exakt reproduziert wird. Man jenes »gewisse Etwas« nur selbst entdecken, es muß »erlebt« werden. Es würde nichts nutzen, darüber zu sprechen, zumal diese innere Empfindung eine Frage des Alters sowie des technischen und geistigen Niveaus des Karateka ist. In dieser Hinsicht ähnelt die Kata den Taolu des Wushu und generell der Orientierung aller »inneren Stile«.

      Die Kata erinnert daran, daß zwischen den Dingen, zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit, ein unsichtbares Band existiert. Suchen muß man es selbst. Es gibt die offenkundige Bewegung, und es gibt ihren verborgenen Sinn. Es ist möglich, an der Ausführung der Bewegung zu erkennen, zu welchem Grad des Verstehens der Praktizierende vorgedrungen ist. Die Kata kann, je nach Niveau des Ausführenden, stereotype, leblose Gymnastik sein oder eine fortwährende, lebendige Schöpfung. Sie erinnert all jene, die zu »sehen« in der Lage sind, daran, daß das Karatedô in erster Linie eine Suche nach der so komplizierten Verbindung zwischen dem Menschen und dem Universum ist, eine Hymne an die universelle Harmonie und den Frieden. Letzteres ist im übrigen auch der Grund dafür, weshalb die erste Bewegung jeglicher Kata generell eine Abwehr ist. Dies bedeutet, daß man sich auf den Kampf nur dann einläßt, wenn dies vollkommen unumgänglich ist. Funakoshi Gichin brachte diesen Gedanken mit den folgenden Sätzen zum Ausdruck: »Im Karate entsteht keinerlei Vorteil durch einen ersten Angriff«. »Im Karate gibt es keinen ersten Angriff« (»Karate ni sente nashi«).

      Die Entwicklung des Karate und die Vervielfältigung der Stilrichtungen hat zur Entstehung von mehr und mehr Kata geführt – ein Zustand, der den Anfänger leicht verwirren kann. Doch von all den Kata sind nur etwa 30 als ursprünglich anzusehen, d. h., daß sie spätestens im 19. Jahrhundert entstanden sind und oft eine chinesische Form zum Ursprung haben. Von diesen wiederum sind ca. 20 von grundlegender Bedeutung. Alle anderen Kata resultieren entweder aus Zerstückelungen alter Kata, aus Verallgemeinerungen von Techniken, oder sie sind das Ergebnis von mehr oder weniger starken (und mehr oder weniger gerechtfertigten) Veränderungen ursprünglicher Kata. Etliche wurden auch von zeitgenössischen Experten neu geschaffen.

      Zu der Zeit, als das Karate noch ausschließlich auf der Insel Okinawa zu finden war – man nannte es damals Okinawa-te, die okinawanische Hand, oder Tô-de, die kontinentale Hand, was sich auf Festland-China bezog –, gab es noch keine Stilrichtungen im heutigen Sinne. Vielmehr existierten zwei wesentliche Strömungen, das Naha-te, für das Meister wie Higashionna und später Miyagi stehen, und das Shuri-te, vertreten durch Meister wie Matsumura, Itosu, Azato, Niigaki und später Funakoshi. Das Tomari-te Meister Matsumora Kôsakus war nur eine kleinere Nebenströmung, die zudem dem Shuri-te sehr nahe war und demzufolge diesem oft gleichgesetzt wird. Die Besonderheiten der zwei Hauptströmungen des Okinawate, der Mutterformen sämtlicher Karatestile, die heute weltweit existieren, fanden sich deutlich erkennbar in ihren Kata wieder. So lag im Naha-te die Betonung auf Kraft, Stabilität, geringen Ortsveränderungen und auf der Atmung, während im Shuri-te größere und geschmeidigere Ortsveränderungen, Ausweichtechniken und schnelle Techniken dominierten.

      Man weiß, daß Funakoshi Gichin als erster dem Begriff Kara-te seinen heutigen Sinn, »leere Hand«, verliehen hat. Mit anderen Schriftzeichen geschrieben, kann Kara-te auch als »chinesische Hand« interpretiert werden; diese Interpretation war vor Funakoshis Neuinterpretation die übliche. Der Geniestreich des Meisters bestand darin, daß er mit einem Wort sowohl den Kampf mit der bloßen Hand ausdrückte, als auch den Begriff der »Leere« ins Spiel brachte, was als Abwesenheit jeglicher schlechter Absicht aufgefaßt werden kann – dies ist der philosophische Sinn des Karate. Zugleich ließ er dabei den chinesischen Einfluß vergessen. Dies war wichtig, da man in Japan in der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert allem Chinesischen gegenüber sehr mißtrauisch war – China galt als »Erbfeind«. Funakoshi ging jedoch noch weiter: Um es den Japanern zu erleichtern, eine fremde Technik zu akzeptieren und ihre Empfindlichkeiten zu schonen, veränderte er die Namen der traditionellen Kata, die er aus Okinawa mitgebracht hatte und die zuvor fast allesamt vom chinesischen Einfluß gezeugt hatten. Dies führt heute mitunter zu Verwirrung, zumal sich teilweise auch technische Einzelheiten geändert haben: Die Übernahme der Kata durch die Japaner brachte technische Veränderungen oder gar Abwandlungen des Gesamtkonzepts der Kata mit sich. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den modernen japanischen Formen und den alten okinawanischen Kata sind mehr oder weniger ausgeprägt. Manche sind einander noch sehr ähnlich, bei anderen hat man sich größere Freiheiten genommen, und die ursprüngliche Grundgestalt ist nur noch schwierig zu erkennen. Die modernen Kata, d.

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