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Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
Читать онлайн.Название Evangelisches Kirchenrecht in Bayern
Год выпуска 0
isbn 9783532600627
Автор произведения Hans-Peter Hübner
Жанр Религия: прочее
Издательство Автор
–der geordnete Strafvollzug,
–Handlungs- und Duldungspflichten, die sich aus der Beachtung von Strafgesetzen oder des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergeben.
In jedem Fall hat dann eine Güterabwägung stattzufinden, welche die anderen Grundrechtsverbürgungen oder die sonstigen verfassungsrechtlichen Werte in Beziehung zur Religionsfreiheit setzt und im Bemühen um eine praktische Konkordanz versucht, die einzelnen beteiligten Rechtsgüter zu „optimaler, d. h. auch sich gegenseitig limitierender Geltung zu bringen“.
Eine solche Abwägung ist aber niemals allgemein möglich, sondern nur im konkreten Einzelfall. Dabei kann auch die Religionsfreiheit – trotz ihres hohen verfassungsrechtlichen Ranges – im Einzelfall höherrangigen Rechtsgütern weichen müssen. Bei Kollisionen mit Grundrechten anderer wird dies z. B. immer dann der Fall sein, wenn das Recht auf Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) oder auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) durch die Religionsausübung tangiert werden. Bei Kollisionen mit anderen Grundrechten dagegen oder mit Gemeinschaftswerten im Verfassungsrang wird es auf den jeweiligen Einzelfall ankommen. Dies soll anhand folgender Beispiele aus der Rechtsprechung verdeutlicht werden:
(1) Das Recht auf Religionsausübung umfasst zwar grundsätzlich auch das Recht, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem bisherigen Glauben abzuwerben. Als Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und Missbrauch der Religionsausübung ist es jedoch z. B. anzusehen, wenn ein Strafgefangener unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse im Strafvollzug unter seinen Mitgefangenen Glaubensabwerbung betreibt und für Kirchenaustritte Tabakerzeugnisse verspricht.31
(2) Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) anderer wird regelmäßig der Religionsfreiheit vorzuordnen sein – z. B. dann, wenn Eltern aus religiösen Gründen unter Berufung auf ihre Religionsfreiheit und ihr elterliches Erziehungsrecht das Einverständnis zu einer lebensnotwendigen Bluttransfusion für das Kind verweigern. Im Hinblick auf die eigene Person wäre dagegen bei der Verweigerung einer lebensnotwendigen Operation die religiöse Motivation vorrangig zu beachten.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die „Gesundbeter-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts32: Ein einer evangelischen Freikirche angehörender Ehemann war zunächst wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, schließlich aber wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden, weil er es unterlassen hatte, seinen Einfluss auf die Ehefrau geltend zu machen, damit diese entsprechend dem ärztlichen Rat sich in eine Klinik einweisen und dort eine lebensnotwendige Bluttransfusion vornehmen lasse. Dies unterblieb jedoch, weil beide Eheleute eine solche Behandlung im ausschließlichen Vertrauen auf das Gebet (Jak. 5,14 und 15) ablehnten. Das BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde gegen das strafgerichtliche Urteil festgestellt, dass das Verhalten des Ehemannes zwar objektiv rechtswidrig, aber aufgrund der Grenzsituation, „in der die allgemeine Rechtsordnung mit dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit“ trat, in Abwägung der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht als vorwerfbar und schuldhaft anzusehen sei.
(3) Die unter dem Gesichtspunkt christlichen Beistands33 einem Asylbewerber nach Ablehnung seines Asylantrags und Androhung der Abschiebung in kirchlichen Räumen gewährte vorübergehende Aufnahme (sog. „Kirchenasyl“)34 wird nicht durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gedeckt35, weil insoweit die verfassungsimmanenten Schranken der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der speziellen Regelungen des Art. 16a GG greifen.36 Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass das in vorrechtsstaatlicher Zeit wurzelnde „Kirchenasyl“ im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat keine Anerkennung mehr finden kann, weil es dort keinen rechtsfreien Raum gibt.37
(4) Das Grundrecht der Religionsfreiheit schützt nicht gegen allgemeine staatsbürgerliche Pflichten wie z. B. die Zahlung von Steuern. Gewissensbedenken eines Steuerpflichtigen gegen Rüstungsausgaben rechtfertigen nicht die Kürzung seiner Steuerschuld um den Anteil, der im Haushalt des Bundes für die Organisation und Finanzierung der Verteidigung verwendet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) insofern überhaupt nicht berührt ist, weil die individuelle Steuerschuld unabhängig von der Verwendung des Steueraufkommens ist, über die allein das Parlament bzw. die an Aufträge und Weisungen nicht gebundenen Abgeordneten entscheiden (Art. 110 Abs. 2 und 3 i. V. m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG).38
(5) Als verfassungsimmanente Schranke der Religionsfreiheit ist zunehmend der staatliche Bildungsauftrag im Schulbereich nach Art. 7 Abs. 1 GG relevant geworden.39 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts hat die Schule über Art. 7 Abs. 1 GG den Auftrag, Schüler und Schülerinnen „zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten Bürgern heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion.“40 Diese Funktion käme indes nicht zum Tragen, wenn die Schule zu einer kategorischen Beachtung sämtlicher vorgebrachter religiöser Verhaltensgebote verpflichtet wäre. Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung klargestellt, dass die Befreiung vom koedukativen Sport- bzw. Schwimmunterricht die Ausnahme bleiben müsse und nur dann in Betracht komme, wenn die Unterrichtsbefreiung für den Grundrechtsschutz der Betroffenen unerlässlich sei. In diesem Sinne ist eine Ausnahmeentscheidung nicht erforderlich, wenn etwa beim Schwimmunterricht den religiösen Belangen durch das Tragen eines Burkini Rechnung getragen werden könne.41 Außerdem müsse gegebenenfalls die Religionsfreiheit zurücktreten, wenn – etwa durch die Verrichtung eines Gebets auf dem Schulflur – der Schulfrieden, der Voraussetzung für die Erfüllung des staatlichen Bildungsauftrags ist, konkret gefährdet würde.42
(6) Dass das Grundrecht der Religionsfreiheit nach deutschem Verfassungsrecht nur eingeschränkt werden kann, wenn Grundrechte Dritter oder andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang berührt sind, ist auch im Zusammenhang mit der Debatte um ein Verbot der Vollverschleierung deutlich geworden.43 Ein solches kommt insbesondere aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Verwaltung in Betracht. In diesem Sinne verbietet das zum 15. Juni 2017 in Kraft getretene „Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“44 die Gesichtsverhüllung bei der Ausübung des öffentlichen Dienstes (z. B. auch als Lehrkräfte und Richter) und für Soldaten und Soldatinnen sowie im Kontext der Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung oder beim Lichtbilderabgleich. Bei Schülern und Schülerinnen kann die Gesichtsverhüllung in der Schule (nicht aber das Tragen eines Kopftuchs) wiederum im Hinblick auf die Erfüllbarkeit des staatlichen Bildungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG) auf gesetzlicher Grundlage untersagt werden.45
Diese Beispiele machen schwierige Abgrenzungsfragen bewusst. Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass