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X-World. Jörg Arndt
Читать онлайн.Название X-World
Год выпуска 0
isbn 9783865068736
Автор произведения Jörg Arndt
Жанр Религия: прочее
Издательство Автор
Ron ging ein paar zaghafte Schritte auf das Raubtier zu.
Dies war eine neue Erfahrung für ihn. Alles, was er bislang kannte, war die Perspektive des Zoobesuchers, dem dicke Metallgitter Sicherheit bieten. Aber hier gab es keine Barriere zwischen Mensch und Tier, und Ron wusste, dass er nicht den Hauch einer Chance hätte, wenn es dem Tiger einfallen sollte, ihn als Beute auszuwählen.
„Es ist alles nur virtuell!“, rief der Programmierer sich zur Ordnung. Er trat noch einen Schritt näher und hob die Hand, um das Fell des Tigers zu berühren. Plötzlich spürte er ein unangenehmes Vibrieren an seinem rechten Bein. Er zuckte zusammen. Ebenso unvermittelt, wie es gekommen war, verschwand das Vibrieren wieder, nur um Sekunden später erneut seine Beinmuskeln zum Pulsieren zu bringen.
Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um sein Handy handelte, das einen Anruf meldete. Hastig hob er die Hand und vollführte eine Doppelschleife in der Luft. Als das Display erschien, loggte er sich aus dem Spiel aus und riss sich den Helm vom Kopf. Jetzt konnte er auch den Klingelton hören – die Titelmusik der Uraltserie „Raumschiff Orion“, deren antikem Charme er vor langer Zeit verfallen war.
Er stellte die Verbindung her. Der Anrufer sprach mit asiatischem Akzent: „Guten Tag, Herr Schäfer, Kim hier von ‚Future Computing‘. Ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen, ob unser Paket Sie erreicht hat.“
„Oh ja, das hat es.“
„Und funktioniert alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Ja, bestens, vielen Dank, Herr Kim.“
„Sehr schön. Dann sind wir gespannt auf Ihre Präsentation. Mein Chef hat hohe Erwartungen an Sie.“
1. BIT AND BYTES
Die weiße Stadt leuchtete im Licht der Morgensonne. Einfache Hütten von Handwerkern und Fischern bildeten einen schimmernden Rand, weiter innen glänzten die herrschaftlichen Häuser der Kaufleute und Bürger. Doch das alles war nichts im Vergleich zu dem prunkvollen Palast aus weißem Marmor, der in der Mitte erstrahlte. Auf allen Türmen wehte die Fahne des Königs. Ein perfektes Motiv für einen Maler – doch müsste er sich mit seiner Kunst beeilen, denn so, wie die Dinge lagen, waren die Stunden dieses Ortes gezählt.
Unaufhaltsam rückten die schwarzen Heerscharen vor und zogen einen dunklen Ring um das leuchtende Juwel. Die Zahl der Angreifer war unermesslich. Die weiße Stadt glich bald einer Perle auf schwarzem Samt. Es war absehbar, dass sie sich binnen Kurzem erst zum feuerroten Rubin wandeln und schließlich als rauchende Kohle enden würde.
Die feindlichen Truppen brachten ihr Kriegsgerät in Stellung. Sie positionierten die Wurfmaschinen, schoben Rammböcke und Belagerungstürme heran. Die Lage war aussichtslos.
Aller Augen richteten sich auf Yannick, den jungen Befehlshaber der weißen Armee. Überraschenderweise war ihm keine Nervosität anzumerken – er vermittelte den wenig beruhigenden Eindruck, als wäre ihm das Schicksal seiner Stadt völlig gleichgültig.
Die Wachen auf den Stadtmauern patrouillierten auf und ab. Sie waren entschlossen, ihr Äußerstes zu geben. Munition und Löschmaterial gegen die Brandpfeile lagen bereit, doch den Steinwürfen der mächtigen Wurfmaschinen hatten sie außer der Dicke ihrer Mauern nichts entgegenzusetzen. Sie konnten nur hoffen, dass ihr Anführer einen genialen Plan hatte, denn sonst wäre ihr Untergang besiegelt.
Die Spannung wuchs ins Unerträgliche.
Schließlich begann der Angriff. Die Wurfmaschinen nahmen ratternd ihre Arbeit auf, riesige Felsbrocken sausten durch die Luft. Noch trafen die wenigsten – die Maschinen mussten sich erst einschießen.
Der junge Befehlshaber beugte sich vor. Er hatte den Ansturm erwartet, sogar erhofft. Sein Widersacher hatte alles in die Schlacht geworfen, was er an Material und Soldaten besaß. Nun war die schwarze Stadt schutzlos.
Yannick gab seine Befehle, und die weißen Truppen, die sich bis dahin verborgen gehalten hatten, stürmten gegen die wehrlose Heimat des Gegners vor. Deren Mauern waren nur schwach befestigt, denn ihr Kommandant hatte die vorhandenen Ressourcen fast vollständig in die Herstellung von Kriegsmaschinen gesteckt.
Im Handumdrehen fiel das Tor. Die Angreifer drängten in das Innere der Stadt. Die wenigen Wächter hatten keine Chance. Nach einigen kurzen Scharmützeln marschierten die weißen Soldaten in den Palast ein und nahmen den schwarzen König gefangen.
Die Zuschauer applaudierten. Das Spiel war zu Ende.
Yannick schob sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht und reckte beide Hände in Siegerpose empor. Er hatte gewonnen – und nicht nur dieses Spiel. Es war die letzte Partie der „eGames Berlin“. Er war der Champion.
Wildfremde Menschen klopften ihm auf die Schulter, gratulierten zum Sieg. Irgendjemand reichte ihm ein Glas Sekt, ein Pressefotograf schoss Fotos und wollte seinen Namen und ein paar Einzelheiten zu seiner Person wissen. Yannick Adams. 19 Jahre. Geboren und aufgewachsen in Berlin. Stammgast im Bit & Bytes.
Er kostete den Augenblick aus. Hinter ihm lagen fast vierzehn Stunden am Computer, aber er fühlte keine Müdigkeit. Stattdessen schwamm er auf einer Woge von Glücksgefühlen. Endlich. Endlich war er auch mal dran. Endlich hatte er auch mal etwas zustande gebracht. Endlich jubelten die Menschen auch ihm mal zu. Solche Momente gab es in seinem Leben sonst eher selten.
Erfolgreich verdrängte Yannick den Gedanken daran, dass er bloß einen kleinen Computerspielwettbewerb gewonnen hatte, der von einer Hackerkneipe ausgerichtet worden war und sich mit einem größenwahnsinnigen Titel schmückte. Schon bald würde sich niemand mehr an diesen Sieg erinnern. Doch das spielte keine Rolle. Jetzt wollte er einfach nur die Gegenwart genießen.
Er holte Tabak und Blättchen heraus und drehte sich eine Zigarette. Vielleicht war dies ja der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Vielleicht bot sich ihm nun die Chance, auf die er gewartet hatte. Bislang sah es nämlich nicht so toll aus bei ihm. Er verfügte über einen mittelmäßigen Schulabschluss und drei Jahre Erfahrung in verschiedenen Aushilfsjobs, mit denen er sich gerade so über Wasser halten konnte. Zu einer Berufsausbildung hatte er sich noch nicht durchringen können.
Seine Mutter hatte längst aufgegeben, ihn nach seiner Lebensplanung zu befragen, und wenn sie das Thema doch mal wieder zur Sprache brachte, gab er die übliche Antwort: Er warte auf die richtige Gelegenheit. Wie in dem Spiel eben. Man muss einfach nur den richtigen Moment abwarten, und dann klappt es.
Für Außenstehende mochte es beim Blick auf sein Leben vielleicht so aussehen, als würde er verlieren, aber wenn sich die Gelegenheit bot, würde er schon allen zeigen, was in ihm steckte. Dumm war er jedenfalls nicht, das hatte er soeben bewiesen. Er verfügte über Durchhaltevermögen, konnte logisch und strategisch denken und verstand sich auf Computer, besonders auf die angesagten Spiele. Hier machte ihm so schnell keiner was vor.
Profi-Gamer, das wäre der perfekte Job für ihn! Den ganzen Tag zocken und dafür auch noch bezahlt werden, zu Turnieren fahren, jubelnden Fans begegnen …
Der Pressefotograf riss ihn aus seinen Träumen. Er wollte ein weiteres Foto gemeinsam mit dem Ladenbesitzer. Yannick musste sich nicht anstrengen, um für die Kamera zu lächeln. Er war rundum glücklich. Er war der Champion. Er hatte gesiegt. Er war der Größte. Dieser Moment hätte gern ewig dauern können.
Aber leider zerstreute sich die Menge schon bald. Die meisten waren müde.
Der Held des Tages suchte seine Sachen zusammen, verstaute sie in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg. Müdigkeit konnte er sich nicht leisten. In den nächsten Stunden hatte er eine Tankstelle zu betreuen.
An der Kneipentür hielt er kurz inne, zündete sich seine Selbstgedrehte an.
„Ciao Lutz!“, sagte er zu dem leicht übergewichtigen Gastwirt mit dem dunkelbraunen Pferdeschwanz, der damit beschäftigt war, die letzten Spuren der Veranstaltung zu beseitigen. Mit seiner Lederweste und den schwarzen Lederhosen schien er eher in eine Motorradgang zu passen als hinter den Tresen einer Nerdkneipe.