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      Schlagartig wurde ihm seine Müdigkeit bewusst. Kaum zu glauben, dass schon wieder ein Tag verflogen war.

      Er gähnte und betrachtete zufrieden den Bildschirm, auf dem sich allmählich ein Sonnenuntergang entwickelte. Das Panorama war idyllisch. Üppige grüne Pflanzen vor einem sich langsam verdunkelnden Horizont, das Geschrei von tropischen Vögeln und mittendrin ein kleiner Junge, der fröhlich die Insel erkundete. Ein letztes Mal kontrollierte Ron die Logdateien, dann ging er zu Bett.

      Als er am nächsten Morgen erwachte, beschloss er, den Tag ganz entspannt anzugehen. Er duschte in Ruhe, zog ein frisches Hemd an und frühstückte ausgiebig. Plötzlich fiel ihm das Paket wieder ein, das am Vortag angekommen war. Neugierig holte er es aus dem Flur. Er stellte es vor sich auf den Tisch, nahm sein Frühstücksmesser und durchtrennte damit die Klebestreifen, die den Pappkarton zusammenhielten. Aus der Öffnung quoll Luftpolsterfolie, die er ungeduldig herauszog. Endlich kam eine mächtige weiße Schachtel zum Vorschein, fast würfelförmig, die Kante etwas länger als sein Unterarm.

      Nun ahnte Ron, was er da vor sich hatte. Behutsam hob er die Schachtel aus dem Karton und öffnete sie. Ein mattschwarz glänzender Helm befand sich darin, der an die frühe Geschichte der Raumfahrt erinnerte. Ron spähte in das nun fast leere Paket, entfernte einen Zwischenboden und fand weitere, deutlich kleinere Schachteln. In einer lagen schwarze Handschuhe, die wie die Ausrüstung von Motorradfahrern aussahen, in der nächsten etwas, das er zuerst für ein Paar Stiefel hielt, was sich jedoch beim näheren Hinsehen als eine Art Gamaschen mit Klettverschlüssen herausstellte.

      „Clever“, sagte er zu sich selbst, „so passen sie für alle Schuhgrößen!“

      Er hatte zwar noch nie etwas von Cyberschuhen gehört, aber ihr Zweck leuchtete ihm sofort ein. Diese Gamaschen würden jede Muskelbewegung der Beine und Füße aufnehmen und in elektronische Impulse umsetzen. Er als Programmierer wiederum konnte sie nutzen, um das Spiel mit dem eigenen Körper zu steuern, anstatt auf die Vermittlung durch Tastatur und Maus angewiesen zu sein.

      Anscheinend war diese Ausrüstung bereits eine Generation weiter als der Cyberhelm, den er auf der IFA gesehen hatte. Ihn überkam ein ehrfürchtiges Gefühl.

      In der letzten Schachtel fand er eine DVD und ein kleines schwarzes Kästchen, zu dem ein USB-Kabel gehörte. Ron verband das Gerät mit seinem Computer und legte die DVD in die Laufwerksschublade. Mit einem schnarrenden Geräusch fuhr sie in das Computergehäuse zurück.

      Er spürte die leichte Erschütterung, als die Silberscheibe im Inneren des Rechners zu rotieren begann, und verfolgte aufmerksam den Installationsprozess auf dem Bildschirm. Klaglos akzeptierte sein Linuxsystem die Treiber. An der schwarzen Box glomm eine blaue LED auf. Der Cyberhelm war betriebsbereit.

      Ron legte Gamaschen und Handschuhe an, setzte den Helm auf und atmete geräuschvoll aus. Der Effekt war überwältigend. Er sah das Monitorbild vor sich, als gäbe es nichts anderes mehr auf dieser Welt, und er konnte den Hintergrund seines Desktops in einer Schärfe erkennen, die ihn irritierte. Er hatte gar nicht gewusst, dass es darauf so viele Details zu entdecken gab. Automatisch griff er zur Maus, um X-World aufzurufen. Der Rechner setzte die Handbewegung augenblicklich auf dem Bildschirm um. Ron brauchte keine Maus mehr. Er konnte einfach seine Hand zu dem Icon ausstrecken, das vor ihm in der Luft schwebte. Mit einer sanften Bewegung seines Zeigefingers tippte er es an. Sofort startete das gewünschte Programm.

      Es war spektakulär. Ron stand nun inmitten seiner Schöpfung. Er hörte das Plätschern der Wellen, die Schreie der Vögel. Versuchsweise drehte er den Kopf. Die Landschaft bewegte sich synchron vor seinem Auge vorbei. Dann hob er den Fuß und ging einen Schritt vorwärts. Gehorsam wanderte die Ansicht der Insel mit ihm mit. Die Illusion, sich mit dem eigenen Körper durch die virtuelle Welt zu bewegen, war perfekt. Es dauerte einige Zeit, bis er in dem Spiel laufen konnte, ohne gleichzeitig über irgendwelche Gegenstände in seinem Arbeitszimmer zu stolpern. Schließlich fand er heraus, dass die nötigen Bewegungen am besten im Sitzen zu realisieren waren.

      Interessiert erkundete er die Insel, die er vor kurzem selbst erschaffen hatte. Aus dieser Perspektive sah alles ganz anders aus. Ron fühlte sich wie ein Abenteurer, der ein unerforschtes Fleckchen Erde auskundschaftete. Er ging ein Stück am Strand entlang und betrachtete nachdenklich die Wellen, die in regelmäßigen Abständen ans Ufer plätscherten. Eine Weile lang blickte er versunken in die Ferne; die Erinnerungen an Urlaube aus längst vergangenen glücklichen Zeiten mischten sich mit dem Anblick, der sich seinem Auge bot. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Die Wogen rollten mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms heran.

      So geht das nicht!, schalt er sich. Die Wellenparameter brauchten dringend noch eine Zufallskomponente. Vergeblich suchte er in seinen Taschen nach Papier und Kugelschreiber, bis ihm einfiel, wo er sich befand. Daraufhin hob er die Hand und malte eine Doppelschleife in die Luft.

      Der strahlend blaue Himmel bekam einen Riss. Eine Art Computerbildschirm erschien, auf dem ein paar Zahlenkolonnen und einige wenige Symbole zu sehen waren. Die Spielesteuerung befand sich noch im Aufbau. Ron griff nach dem Notepad-Icon. Eine Tastatur erschien und schwebte vor ihm in der Luft. Anfangs war es etwas ungewohnt, darauf zu schreiben, weil das Gefühl an den Fingerspitzen fehlte, aber es gelang ihm dennoch problemlos, eine Notiz zu verfassen.

      „Wellen: Zufallskomponente einrichten“, schrieb er und speicherte die Notiz als „ToDoList.txt“ ab. Dieselbe Geste, die den Computerbildschirm hervorgebracht hatte, ließ ihn auch verschwinden. Der Himmel war wieder makellos. Ein paar Möwen zogen vorbei.

      Der Programmierer wandte sich um und ging auf den Dschungel zu, der kurz hinter dem Strand begann. Die Details der Pflanzen sind mir wirklich gut gelungen, dachte er zufrieden, als er in das grüne Dickicht unterschiedlicher Gewächse eintauchte. Es fehlt eigentlich nur noch ein Gefühlseindruck. Man spürt gar nichts, wenn man einen Zweig zur Seite schiebt. Aber der optische Impuls ist so stark, dass man fast meint, etwas zu spüren.

      Ein tiefes Grollen riss ihn aus seinen Überlegungen. Eine Adrenalinwelle jagte durch seinen Körper. Alle Muskeln spannten sich an; uralte Überlebensprogramme, die die Menschen seinerzeit sicher durch die Steinzeit gebracht hatten, aktivierten sich in seinem Inneren. Ron konnte das Pochen seines Herzens bis zum Hals fühlen.

      Instinktiv suchte er Deckung hinter einer stattlichen Palme. Vielleicht hatte ihn das Tier noch nicht gewittert. Der Tiger stand etwa 30 Meter von ihm entfernt und sah zu ihm herüber. Ron stockte der Atem. Die Raubkatze sah fantastisch aus. Natürlich wusste er, dass ihm keine Gefahr drohte, schließlich befanden sie sich nur in einem Computerspiel, das er zudem selbst programmiert hatte, und trotzdem. Die Bedrohung wirkte unglaublich real.

      Überrascht registrierte Ron, dass sein Gehirn von sich aus fehlende Details beisteuerte. Er meinte, den Wind, der die virtuellen Blätter bewegte, auf der Haut zu spüren, und es schien ihm sogar, als könne er den animalischen Geruch des Tigers riechen. Es war perfekt. Fantasie und Unterbewusstsein arbeiteten Hand in Hand mit den Geräuschen und visuellen Eindrücken, die der Computer lieferte. Sein Kopf schuf daraus eine so überzeugende Illusion, dass er sich immer wieder bewusst machen musste, wo er sich eigentlich befand. Soviel war klar, dieses Spiel würde ein Renner werden.

      Der Tiger kam näher und brachte den Programmierer in die virtuelle Wirklichkeit zurück. Wieder spannten sich seine Muskeln reflexartig an, sein Herz begann zu rasen.

      „Du musst keine Angst haben, Joey ist ganz lieb!“, rief eine helle Stimme. Ron drehte sich um und sah in ein fröhliches Kindergesicht. Zerzauste blonde Haare, die in verschiedenen Farbtönen spielten, Sommersprossen, strahlend blaue Augen.

      „Hast du dem Tiger diesen Namen gegeben?“, fragte er erstaunt. Der Junge nickte stolz.

      Ron war mehr als überrascht. Das konnte eigentlich nicht sein. So zufrieden er auch mit sich und seinen Fortschritten im Bereich der künstlichen Intelligenz war – dass ein Bot einer anderen Kreatur selbstständig einen Namen gab, reichte weit über das hinaus, was er erwartet hatte. Das war eine enorme Leistung, die Vernunft, ja, Bewusstsein voraussetzte.

      „Wie bist du auf diesen Namen gekommen?“

      „Keine Ahnung“, antwortete

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