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Erst vermutete Ron eine Systemstörung, aber dann wurde ihm klar, dass in der jungen Welt Nacht herrschte. Er machte sich an die Arbeit, und bald erstrahlte ein wunderschöner Sternenhimmel über der tropischen Insel. Ein untergehender Mond spendete gerade so viel Licht, dass man sich problemlos orientieren konnte.

      Ron war begeistert. Seine Schöpfung gefiel ihm. Aber noch wirkte sie trotz der Palmen, die sich sanft im Wind bewegten, kalt und unbelebt.

      Das lässt sich ändern, dachte er. Fangen wir mal mit dem Meer an. Das ist die größte Fläche.

      Als er fertig war, durchschnitt eine Gruppe Delphine die Wellen und umrundete mit ihren Sprüngen die Insel. Sie jagten glänzende kleine Fische, die den Ozean bevölkerten.

      Zufrieden wandte Ron sich dem Land zu. Auch hier konnte er einige Dateien aus früheren Projekten verwenden, und so dauerte es nicht lange, bis die virtuelle Karibikinsel von fröhlichem Vogelgezwitscher erfüllt war.

      Wirklich nicht schlecht, lobte er sich und ließ den Computer die Telefonnummer des Pizzadienstes wählen. Er hatte keine Ahnung, wie spät es mittlerweile war, aber das spielte keine Rolle, schließlich boten sie einen 24-Stunden-Service an.

      Mit einem Stück Pizza im Mund machte er sich daran, die Landlebewesen zu programmieren. Wieder griff er auf vorhandene Vorlagen zurück, die er mit wenigen Befehlen in das aktuelle Projekt übernahm. Für den Tiger aber nahm er sich Zeit. Er sollte das Glanzlicht seiner Schöpfung werden. „Schärfer als die Realität“, meldete sich ein Werbespot aus Kindertagen in seinem Hinterkopf zu Wort. Das beschrieb sein Ziel ziemlich gut.

      Es dauerte lange, bis die Texturen und Bewegungen seinen Ansprüchen genügten. Aber endlich beobachtete er mit Stolz, wie die Raubkatze geschmeidig durch den Dschungel schlich. Ihr Fell glänzte in der Sonne, und ihr Brüllen schreckte Schwärme von Vögeln auf. Ron fand, dass er noch niemals ein besseres Ergebnis abgeliefert hatte. Er war schon jetzt sehr zufrieden mit dem Projekt. Wenn das seine Auftraggeber nicht begeisterte, war ihnen nicht zu helfen. Nun war es an der Zeit, ins Bett zu gehen.

      Diesmal schlief er sehr unruhig. Er träumte, dass er unterwegs zum Termin war, um die Demo vorzustellen. Den Laptop fest an die Brust gepresst, irrte er durch eine fremde Stadt auf der Suche nach der richtigen Adresse. Die Straßen waren endlos lang, trostlose Schluchten zwischen himmelhohen Bürogebäuden aus Glas und Beton, an denen es weder Hausnummern noch Eingänge gab. Allmählich wurde es dunkel, doch Ron fand niemanden, der ihm den Weg zeigen konnte. Er lief und lief, bis er schließlich aufgab und sich erschöpft auf eine Bank sinken ließ. Verzweiflung übermannte ihn – diese Präsentation war die Chance seines Lebens, aber er hatte versagt. Mal wieder.

      Übergangslos befand er sich mitten in seinem Spiel. Er sah Jonte, der auf dem Tiger ritt und fröhlich lachte. „Deine Welt ist prima geworden, Papa!“, jauchzte er. Plötzlich tauchten Soldaten mit Schnellfeuergewehren auf. Sie wirkten, als wären sie aus einem Ego-Shooter entsprungen. Wortlos hoben sie ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf Jonte und den Tiger. Ron schrie auf. Er wollte losrennen, um sie daran zu hindern, doch er kam nicht von der Stelle.

      Schweißgebadet fuhr er hoch.

      Die Zeiger seiner Taschenuhr – ein Erbstück seines Großvaters – standen auf Viertel nach vier. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es Nacht oder Nachmittag war. Die Rollos hielten das Außenlicht komplett zurück. Ron stand benommen auf, versuchte, die letzten Traumfetzen abzuschütteln, ging hinüber in das Arbeitszimmer und startete den Rechner.

      Die Systemuhr zeigte 04 : 17 – demnach war es früher Morgen. Der vierte Tag seiner Schöpfung begann.

      Gute Leistung, dachte er zufrieden. Eine ganze Welt in weniger als einer Woche zu erschaffen, das sollte ihm erst einmal jemand nachmachen. Die Beklemmung des Albtraums fiel endgültig von ihm ab. Er suchte das Bad auf, holte sich einen Kaffee und ging wieder an die Arbeit. Bisher hatte er auf Erfahrungen mit früheren Spielwelten zurückgreifen können. Nun kam etwas Neues für ihn. Sein Sohn hatte sich einen Spielkameraden gewünscht. Es würde also Menschen auf dieser Insel geben – für den Anfang zwar nur einen, aber immerhin. Das war nicht so einfach.

      Die Bots, die Ron plante, sollten täuschend echt wirken. Dazu musste er Denkprozesse simulieren, vielleicht sogar eine Art Unterbewusstsein erschaffen, damit die Handlungen und Äußerungen der Figuren nicht allzu vorhersehbar und hölzern erschienen.

      Diese Aufgabe faszinierte ihn schon seit seinem Psychologiestudium. Es gab einen dicken Aktenordner mit Entwürfen zu diesem Thema. Bislang hatte er allerdings noch keine Gelegenheit gefunden, sie zu verwirklichen – unter anderem, weil die Rechnerkapazitäten zu seinen Studienzeiten dafür nicht ausgereicht hatten. Mittlerweile aber war das kein Problem mehr. Der durchschnittliche Anwender verfügte heute über Prozessorleistungen, von denen man zehn Jahre zuvor selbst an den Universitäten nicht einmal hatte träumen können.

      Er vertiefte sich in seine Arbeit. Der virtuelle Freund, den er für seinen Sohn programmieren wollte, sollte das geistige Niveau eines Schulanfängers bekommen. Das vereinfachte die Sache. Wie in Trance hämmerte Ron Befehle in das System. Das jahrelange Nachdenken kondensierte zu Programmcode. Es floss aus seinen Fingerspitzen in die Tastatur, als hätte alles in ihm nur darauf gewartet, diese Pläne endlich umzusetzen.

      Die Türklingel war unangenehm laut.

      Ron brauchte einen Augenblick, um das Geräusch einzuordnen, und vergaß es sogleich wieder. Sein Prototyp befand sich bereits im Alphastadium und war fast fertig. Er musste nur noch …

      Es klingelte erneut.

      Missmutig stand der Programmierer auf und stakste zur Tür. Das stundenlange Sitzen hatte seine Gelenke steif werden lassen. Als er öffnete, sah er einen Mann in brauner Uniform vor sich, der ein großes Paket trug. Ron zuckte unwillkürlich zusammen. Alles wirkte so real.

      „Herr Schäfer?“, fragte der Uniformierte. Ron nickte.

      „Ich habe eine Lieferung für Sie.“

      Der Paketbote scannte den Barcode ein und hielt ihm das Gerät zur Unterschrift entgegen. Ron versuchte den Absender zu erkennen – er konnte sich nicht erinnern, in der letzten Zeit etwas bestellt zu haben. Egal. Name und Anschrift stimmten, es würde wohl alles seine Richtigkeit haben. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu, stellte das Paket in den Flur und war mit seinen Gedanken schon wieder bei seinem Projekt.

      Der Bot ist gelungen, befand er, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Ein etwa sechs Jahre alter Junge bewegte sich auf dem Monitor und machte sich gerade daran, auf einen der Bäume zu klettern.

      Ron griff zur Maus und klickte ein Icon an. Auf der Karibikinsel erschien ein Erwachsener, der ihm selbst ziemlich ähnlich sah. Ron setzte sich ein Headset auf, rückte das Mikrofon zurecht und sprach hinein.

      „Hallo Alf!“, sagte der Mann auf dem Bildschirm. Der kleine Junge drehte sich um.

      „Wo kommst du denn her?“, fragte er. „Ich habe dich gar nicht kommen hören. Und woher weißt du, wie ich heiße?“

      „Ich habe diese Welt erschaffen.“

      „Wirklich? Mich auch?“

      „Ja, dich auch“, lächelte der Mann.

      „Das war aber nett von dir! Du bist ein lieber Gott!“

      Ron räusperte sich verlegen und wechselte das Thema. „Gefällt dir die Insel?“, ließ er den Erwachsenen fragen.

      „Ja, die ist super, aber ich habe noch nicht alles gesehen.“

      „Dann schau dich ruhig weiter um. Ich komme später wieder vorbei.“

      „Ist gut“, sagte der Junge. „Ich glaube, dahinten sind ein paar Papageien. Da wollte ich gerade hin. Vielleicht können sie ja sprechen!“ Er drehte sich um und lief leichtfüßig über den Sandstrand.

      Ron tippte einen Befehl. Prompt öffnete sich ein Feld, in dem unablässig Zahlen- und Buchstabenkombinationen erschienen. Er studierte sie aufmerksam. Nach einiger Zeit nickte er zufrieden.

      Es

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