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sich jedoch ein Mensch, der den Schmerz der Abstoßung zutiefst empfindet und sich danach sehnt, dass die anderen mehr in ihm sehen als nur eine Behinderung.

      Plötzlich gehörte ich einer Minderheit an, der ich eigentlich nicht hatte beitreten wollen, und entwickelte alsbald ein Gefühl der Verbundenheit mit meinesgleichen. Ich wurde dadurch auch feinfühliger anderen Minderheiten gegenüber, die ebenfalls diskriminiert wurden. Meine Behinderung war nicht zu übersehen. Wenn man mich jemandem vorstellte, konnte ich keine Hand schütteln. Stattdessen bot ich meinen Arm an oder umarmte die Person sanft, aber auch das lenkte die Aufmerksamkeit auf meine Behinderung. Seltsam fand ich es, wenn Menschen darauf bestanden, meinen Metallhaken zu schütteln. Als körperlich unversehrter Mensch hatte ich es verstanden, wie die meisten anderen wohl auch, unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diese Möglichkeit gab es jetzt nicht mehr. Mit der Anonymität war es nunmehr vorbei. Sobald ich einen Raum betrat, starrten manche Menschen auf die Haken an meinen Armen, während andere sich in geradezu absurder Weise bemühten wegzuschauen. Wiederum andere versuchten ihr Unbehagen zu überwinden, indem sie zu mir eilten und mir unerbetene und unnötige Hilfe anboten. Oft denke ich an ein Prinzip meiner Ordensgemeinschaft: „Bürde anderen keine Hilfeleistungen auf, die deiner eigenen Vorstellungswelt entspringen.“

      Ich begann, meine eigenen vorgefassten Meinungen über behinderte Menschen unter die Lupe zu nehmen. War ich ihrem Schmerz gegenüber blind gewesen? Hatte ich sie verdinglicht? Als ich tiefer grub, merkte ich beschämt, dass sich meine mangelnde Sensibilität schon in meiner eigenen Familie ausgewirkt hatte. Meine Beziehung zu meinem älteren Bruder Peter war schon immer etwas problematisch gewesen. Er stotterte, während ich als Jugendlicher meine frühreife Religiosität im Brustton der Überzeugung zum Ausdruck brachte. Ich war ausgesprochen wortgewandt, und so fiel es mir in Wortgefechten sehr viel leichter zu punkten als Peter, der damit Schwierigkeiten hatte. Ich sehe jetzt ein, dass ich seine Schwäche auf unfaire Weise ausnutzte, was sicherlich zu unserer distanzierten Beziehung beigetragen hat. Selbstverständlich können Behinderte den Spieß auch umdrehen, indem sie [25]ihre Behinderung gezielt benutzen, um besondere Gefälligkeiten zu erwirken. Nach einem langen, anstrengenden Tag ist es nur allzu einfach, einen Freund zu fragen: „Könntest du dies für mich tun?“, auch wenn ich „dies“ mit etwas mehr Mühe auch selbst erledigen könnte. Außerdem gibt es Tätigkeiten, die mich eine größere Anstrengung kosten würden und die ich grundsätzlich nicht selbst verrichte, wie den Geschirrspüler einräumen, beim Kochen helfen und mein Gepäck tragen. In diesen Momenten denke ich dann: „Naja, eine Behinderung muss ja auch Vorteile haben.“ Schuldgefühle können auch als Waffe benutzt werden, um Menschen zu bestrafen, die auf unsere Ansprüche nicht eingehen. Genauso kann uns die Bewunderung anderer Menschen zu Kopf steigen – verführerisch und zugleich spirituell riskant. Diese gefährlichen Tücken, die Behinderungen mit sich bringen, verleiten uns dazu, in der Opferrolle zu verharren, und können die Beziehungen zu Familie und Freunden zerstören.

      Wenn ich gefragt werde, wie meine Hände funktionieren, antworte ich normalerweise, dass sie von Glauben und Hoffnung geführt werden. Mechanisch gesehen sind sie aber mit meinen Schultern verbunden. Wenn ich meine Schulter auf eine bestimmte Weise bewege, öffnen sich die Haken, wenn ich die Schulter anders bewege, öffnen sie sich nicht. Sie sind also fein eingestellte Instrumente, auch wenn sie nicht danach aussehen. Ich kann sogar tippen und Auto fahren. Was ich machen oder nicht machen kann, ist oft nicht vorhersehbar. Es ist für mich zum Beispiel einfacher, Auto zu fahren, meinen Laptop oder mein Handy zu benutzen, als meinen obersten Hemdknopf aufzumachen. Kurz nach meiner Rückkehr nach Südafrika lud mich Erzbischof Tutu zum Abendessen ein. Ich lernte damals noch den Umgang mit meinen Prothesen. Wenn ich zum Beispiel mit dem rechten Haken eine Tasse hielt und gleichzeitig versuchte, mit dem linken etwas anderes zu tun, konnte es durchaus geschehen, dass die Tasse zu Boden fiel. Als Tutu mir dann Kaffee eingoss, rutschte die Tasse prompt weg, und der Kaffee ergoss sich über den Erzbischof. Er fragte mich, ob ich nach Hause wollte, aber ich erwiderte, dass mir eine zweite Tasse Kaffee lieber wäre.

      Jede Behinderung hat ihre Besonderheiten. Dies kann man bei Einrichtungen für Behinderte am besten beobachten. Vor einigen Jahren nahm ich an einer Tagung in einem neuen Konferenzzentrum in Johannesburg teil. Die Gastgeber schienen außergewöhnlich erfreut über mein Erscheinen. Ich konnte ihre Begeisterung nicht begreifen, bis sich herausstellte, dass das neue Gebäude mit einer behindertengerechten Suite ausgestattet war. Mit großem Trara führten sie mich dorthin. Ich schaute mich darin um und fand die Suite ziemlich gewöhnlich – ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank, also nichts, was man mit einer Behinderung in Verbindung bringen würde. Dann zeigten sie mir das Bad – das einzig Außergewöhnliche war eine Handdusche! Die Designer hatten offensichtlich nicht an mich gedacht. Meine Gastgeber waren bestürzt, als ich sie bat, mir ein anderes Zimmer zu besorgen.

      [26]In den USA ist es für mich besonders schwierig, da dort – im Unterschied zu vielen anderen Ländern – die Türen keine Klinken sondern Türknäufe haben und ich es nicht schaffe, diese Knäufe zu drehen. Bei meiner ersten USA-Reise nach dem Attentat konnte ich mein Hotelzimmer weder betreten noch verlassen, ohne den Sicherheitsdienst zu rufen. Daraufhin beschloss ich, nicht mehr ohne persönlichen Assistenten zu reisen.

      Vor nicht allzu langer Zeit fuhr ich zu einer Tagung in einem teuer ausgestatteten Bürogebäude im Zentrum von Manhattan in New York City. Wieder wurde mir voller Stolz eine behindertengerechte Toilette gezeigt. Leider hatte auch deren Tür einen runden Knauf. In diesem Fall aber wurde die Tür gleich am darauffolgenden Tag mit einer Art Hebel ausgestattet, den ich betätigen konnte. In Restaurants muss ich oft mit der Bedienung verhandeln, damit ich meinen Tee in einem großen schlanken Glas serviert bekomme, das ich dann auch festhalten kann. Unbegreiflicherweise befürchten die Angestellten trotz meiner gegenteiligen Erfahrung immer wieder, dass das Glas durch den heißen Tee brechen könnte. Ich kann ihnen noch so geduldig erklären, dass das nicht der Fall sein wird, sie beharren dennoch darauf. Gebrochen ist es noch nie.

      Zwar hatte mich meine monatelange Genesung die Grundlagen des Lebens mit einer Behinderung gelehrt, doch als ich eine lange Vortragsreise unternahm, kam ich mir vor wie auf einer Weiterbildung. Plötzlich war ich im Ausland gefragter als je zuvor. Mein Schicksal hatte sich herumgesprochen, und viele wollten mir ihren Zuspruch persönlich übermitteln. Auch ich wollte unbedingt allen Menschen danken, die mich bei meiner Genesung begleitet hatten. Endlos über diesen Anschlag zu reden war jedoch anstrengend. Nicht, dass ich das Trauma erneut durchlebt hätte – vielmehr wurde es einfach langweilig. Ich wiederholte die Geschichte immer wieder und dachte innerlich: „Jetzt geht es schon wieder los.“

      Politisch war der ANC seit kurzem zugelassen, und es fanden offizielle Verhandlungen zwischen der weißen Regierung und der Freiheitsbewegung statt. Das Land erlebte aber auch eine Welle der Gewalt, als die weiße Regierung die Bevölkerung gegen rivalisierende politische und ethnische Gruppierungen aufzuwiegeln suchte und sie auch gegeneinander aufhetzte. Darüber hinaus verschärfte sie ihre eigene brutale Repression. Das Apartheidregime hatte es geschafft, das gesamte südliche Afrika zu destabilisieren, und ging nunmehr daran, innerhalb von Südafrika dasselbe zu tun. Angesichts der bevorstehenden Wahlen wollte die Regierung die demokratischen Kräfte dazu bringen, sich gegenseitig zu bekämpfen, anstatt die Bevölkerung für die Wahlen zu mobilisieren. Bisweilen wurde vermutet, dass die Regierung in ihrer Naivität glaubte, die Freiheitskämpfer ausmanövrieren und sich an den Kern der politischen Macht klammern zu können. Niemand wusste, wie es ausgehen würde. Würde es zu einem Blutbad kommen? War ein friedlicher Regierungswechsel möglich?

      [27]Freunde im Ausland waren gespannt, die Geschichte aus meiner Sicht zu hören, sodass ich schon 18 Monate nach dem Attentat eine doch sehr anstrengende Tour durch Norwegen, Schweden, England, die Vereinigten Staaten und Kanada antrat. Das war wohl etwas voreilig von mir, denn diese Reisen waren immer strapaziös, und ich war ja immer noch nicht ganz bei Kräften und hatte außerdem keine Erfahrung damit, wie man Reisen mit einer Behinderung wie meiner bewältigt. Wenn ich zum Beispiel mit dem Zug anreiste, musste mich jemand am Bahnsteig abholen, da ich ja das Gepäck nicht tragen konnte. Toiletten waren manchmal problematisch. Um ehrlich zu sein, konnte ich selbst nicht immer voraussehen, welche Hilfe ich benötigen würde, und meine Gastgeber waren dazu ebenfalls kaum oder gar nicht in der Lage. So improvisierten wir eben. Ich musste sie oft beschwichtigen, und wenn ich etwas kurz angebunden war, wirkten sie manchmal

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