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mit engen Freunden zusammen bin, bitte ich sie, mir das Essen direkt in den Mund zu schieben, aber bei Fremden war mir da manchmal etwas unbehaglich zumute. All das war neu für mich und bisweilen stressig. Ich kehrte etwas geläutert nach Hause zurück und hatte nun eine realistischere Vorstellung von dem, was solche Reisen mit sich bringen.

      Kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus in Australien entlassen wurde, kehrte ich nach Simbabwe zurück. Überall schienen die Menschen mich zu erkennen, und sie freuten sich offenkundig darüber, mich wieder auf den Beinen zu sehen. Eines Tages zum Beispiel ging ich mit einem Freund im Park spazieren, als ein Polizist auf uns zutrat und sagte: „Erinnern Sie sich an mich? Ich war einer Ihrer Leibwächter, als Sie im Krankenhaus lagen. Wie fühlen Sie sich jetzt?“ Praktisch jeden Tag erlebte ich solche Momente mit Freunden und auch völlig fremden Menschen. Dies gab mir wirklich das Gefühl, in Simbabwe dazuzugehören und nicht nur ein Verbannter zu sein, der darauf wartete, nach Südafrika zurückzukehren. Kurz nach meiner Ankunft erfuhr ich zu meiner Verblüffung, dass mir in Neuseeland ein Verdienstorden, die Queen’s Service Medal verliehen werden sollte, in Anerkennung meiner Bemühungen um die Befreiung Südafrikas. Wie ich bei der Verleihungszeremonie sagte, wird diese Ehre normalerweise Wirtschaftsführern und pensionierten hohen Armeeoffizieren zuteil, aber bestimmt nicht Priestern, die sich einer nationalen Freiheitsbewegung anschließen und die moralische Zulässigkeit des bewaffneten Kampfs verteidigen! Meine Worte riefen hier und da ein Lächeln hervor, doch niemand protestierte.

      Ich begriff aber auch schnell, dass eine Behinderung für viele Menschen etwas völlig Fremdes ist. Zum Beispiel traf ich hin und wieder einige meiner früheren Kampfgefährten. Als ich mich ihnen gegenüber selbst als behindert bezeichnete, fühlten sie sich sichtlich unwohl. „Du bist doch gar nicht behindert!“ sagten sie. Was sollte der Unsinn? Tatsächlich brachten sie damit zum [28]Ausdruck, dass meine Behinderung nicht in ihre Vorstellungswelt passte. Für sie war ich ein im Kampf verwundeter Soldat, und das war’s. Dieses Konzept konnten sie verstehen, ob es meiner Realität entsprach oder nicht. Dass ich nie eine Waffe benutzt hatte, war unwichtig.

      Ich fühlte mich bereit, meine Arbeit wieder aufzunehmen, und beschloss, den Bischof aufzusuchen, der mich in der Diözese von Bulawayo als Pfarrer angestellt hatte. Der Anschlag auf mich war zwei Tage vor meinem Amtsantritt verübt worden, sodass ich meine Aufgaben dort nie wahrgenommen hatte. Dieser Bischof war ein lieber Mensch, er hatte mich auch im Krankenhaus besucht und für meine Genesung gebetet. Sieben Monate später stand ich nun vor seiner Tür. Ich erklärte ihm, dass es mir jetzt wieder gut ginge, und dankte ihm für seine Gebete. Dann fragte ich ihn nach der Aufnahme meiner Tätigkeit. Er wurde ganz verlegen, und ich fragte mich, ob er als Bischof vielleicht nicht daran gewöhnt war, dass Gott seine Gebete erhörte. „Aber Sie sind doch behindert. Was können Sie denn tun?“ sagte er schließlich. „Nun, Herr Bischof, ich kann vieles tun, ich kann sogar Auto fahren“, erwiderte ich. Ich sah das Entsetzen in seinen Augen. Vielleicht befürchtete er, mir im Auto zu begegnen. „Wissen Sie, Herr Bischof, ich denke, ich kann ohne Hände ein besserer Priester sein, als ich es mit zwei Händen jemals war“, fügte ich noch hinzu, aber es hatte keinen Zweck. Dieser Bischof war kein schlechter Mensch, er empfand mich jedoch als Belastung. Erzbischof Desmond Tutu hingegen gab mir eine Arbeit in der Diözese von Kapstadt. „Wissen Sie, ich habe einen Priester, der taub ist, und einen anderen, der blind ist. Jetzt habe ich einen ohne Hände. Na los! Worauf warten Sie?“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Ein Bischof sah mich also als Belastung, der andere als Bereicherung.

      Es öffneten sich auch andere Türen für mich. Als ich noch in Australien im Krankenhaus lag, bekam ich einen Anruf von Horst Kleinschmidt, einem südafrikanischen Freund, der in London im Exil lebte. Er leitete den International Defense and Aid Fund, eine Organisation, die politischen Gefangenen in Südafrika juristische Unterstützung anbot. Durch seine Arbeit war er immer auf dem neusten Stand der Entwicklungen in Südafrika und wusste, dass das Apartheidregime womöglich seinem Ende entgegen ging. Horst war kurz zuvor zum ersten Mal seit langem nach Südafrika gereist und hatte dort erfahren, dass sich eine Gruppe von Psychotherapeuten mit der Frage befasste, wie man von der Apartheid geschädigten Menschen künftig emotionale und psychologische Unterstützung bieten konnte. Es wurden bereits Pläne geschmiedet, um in Cowley House, einer Einrichtung der anglikanischen Kirche in Kapstadt, ein Zentrum für traumatisierte Gewalt- und Folteropfer aufzubauen. Horst rief mich im Krankenhaus an und meinte, ich sei wie geschaffen für die Arbeit dort. Das Wunderbare an den Reaktionen von Horst und Erzbischof Tutu war, dass sie meinen Schicksalsschlag nicht als Handicap, sondern als Auslöser für die Entwicklung neuer Fähigkeiten betrachteten.

      [29]Während der Arbeit an diesem Buch las ich die bemerkenswerte Darstellung einer Behinderung von John Howard Griffin, einem Musiker, Autor und Mystiker, der sich später im sozialen Bereich engagierte und dann durch sein Buch „Black Like Me“ berühmt wurde. Seine Geschichte erweckte in mir einen äußerst persönlichen Aspekt meines Heilungsweges wieder, über den zu reden mir schwerfällt, und bewirkte, dass ich noch einmal über meine eigene Erfahrung nachdachte. In seinem Buch „Scattered Shadows“ beschreibt Griffin, wie er über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg völlig erblindete und zehn Jahre später gänzlich unerwartet sein Sehvermögen wiederfand. Obwohl unsere Lebenswege sich in vielem unterscheiden, spiegelt das Buch im Wechselspiel zwischen unseren Unterschieden und Gemeinsamkeiten jedoch auch meine Entwicklung wider. Als Jugendliche verließen wir beide unser Zuhause und begaben uns in fremden Ländern auf eine Sinnsuche. Für Griffin als Amerikaner bedeutete das zunächst, Antworten in der Musik und einer klassischen französischen Bildung zu suchen, während ich mich der Theologie und dem Priestertum zuwandte. Als junger Mann zog er in den Krieg und erlitt dort eine Verwundung, durch die er erblindete. Später wurde er Pazifist, während ich, zumindest vorübergehend, in die entgegengesetzte Richtung strebte. Unsere Gemeinsamkeit lag in unserem Engagement, Gottes Willen erkennen zu wollen. Seine Geschichte ist die Geschichte eines tiefen Glaubens, aber – und da unterscheiden wir uns – er musste starke Zweifel überwinden, bevor er sich schließlich dem römisch-katholischen Glauben anschloss.

      Ich war sehr ergriffen von Griffins emotionalem und spirituellem Ringen mit seiner Behinderung, von seiner außerordentlichen Selbstwahrnehmungsfähigkeit und der kompromisslosen Klarheit, mit der er seine manchmal widersprüchlichen Gefühle darzustellen wusste. In seinen Memoiren lässt er zuweilen andere für sich sprechen. Als er noch ein wenig sehen konnte, besuchte er Tours, wo er einen blinden, heruntergekommenen Straßenhändler traf. Für beide war es eine sehr eindrucksvolle Begegnung: Griffin hatte noch nie zuvor mit jemandem darüber gesprochen, was es heißt, blind zu sein, und der Straßenhändler war nie zuvor wegen seiner Blindheit geschätzt worden. Die Schilderung der schmerzhaften Einsamkeit eines Lebens mit einer Behinderung, wie sie der Straßenhändler beschrieb, wühlte mich im Innersten auf:

      Ich lebe seit fast fünfzig Jahren in diesem Viertel. Keiner weiß, wie ich heiße … ich habe keinen Namen, nur eine Behinderung … ich bin der Blinde … Als ich jung war wie du, sehnte ich mich so sehr nach Zuneigung, dass ich es sogar bei Prostituierten versucht habe. Weißt du warum? Es ging eigentlich nicht um Sex, sondern darum, berührt zu werden … Einen Orgasmus kann man kaufen, aber nicht jene liebevollen Berührungen, die ihm Bedeutung geben. Man kauft nur eine elendere Erbärmlichkeit … ich hasste sie deswegen.

      [30]

      Die persönliche, innere Dimension meiner eigenen Heilung war im Grunde ein spiritueller Weg, auf dem ich Trost in der Weisheit meiner Glaubenstradition fand. Einmal hatte ich eine Ikone der orthodoxen Kirche gesehen, auf der Jesus mit zwei ungleich langen Beinen dargestellt war. Die vorherrschende westliche Ikonografie zeigt Jesus immer mit einem makellosen weißen männlichen Körper – einem Körper, den so niemand besitzt, außer vielleicht in Hollywood. Doch da war er, mit einem gravierenden Mangel, so wie ich. Wahrscheinlich ging das Bild auf Jesajas Gleichnis vom leidenden Knecht zurück:

      Siehe, mein Knecht wird weislich tun und wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Gleichwie sich viele an dir ärgern werden, weil seine Gestalt hässlicher ist denn anderer Leute und sein Ansehen denn der Menschenkinder, also wird er viele Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn welchen nichts davon verkündigt ist, die werden’s mit Lust sehen;

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