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vorweg, hässlich, verunglimpft und verschmäht – eine Passage von Jesaja, die durch Händels glorreiches Altsolo „He was despised“ im zweiten Teil seines „Messias“ berühmt wurde:

      [31]Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.

      Während ich über diese Bibelpassagen nachdachte und ihre heilsame Wirkung verspürte, begriff ich, dass Behinderung eigentlich die Norm des menschlichen Befindens darstellt. Unvollkommenheit, Unvollständigkeit, Versehrtheit – sie alle sind universelle menschliche Erfahrungen. Menschen mit schlimmen körperlichen Behinderungen spiegeln die Wirklichkeit der gesamten Menschheit wider. Einige Jahre später, bei meiner Arbeit mit dem Institute for Healing of Memories, schafften die sichtbaren Zeichen meines Leidens ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, die ihre eigenen sichtbaren oder unsichtbaren Wunden mit sich trugen. Mit der Zeit überbrückte diese Verbundenheit Kulturen, Religionen und räumliche Entfernung. Schmerz ist tatsächlich ein Weg zur Transzendenz.

      Der heilige Laurentius war ein christlicher Märtyrer im zweiten Jahrhundert, dem von römischen Verfolgern befohlen wurde, den Reichtum der Kirche als Tribut abzugeben. Natürlich erwarteten sie Gold und Silber. Stattdessen brachte Laurentius ihnen Alte, Kranke, Blinde und Menschen, die nicht gehen konnten. „Seht her“, sagte er, „sie sind der Reichtum der Kirche.“ Ich verstand, dass behinderte Menschen wie wir der Reichtum der Menschheit sind. Wir sind ein Ausdruck dafür, dass Zerbrechlichkeit, Krankheit und Versehrtheit zwangsläufig zum menschlichen Leben gehören. Durch unser Hilfebedürfnis verkörpern wir die Abhängigkeit der Menschen voneinander. Wir erwecken die Gabe des Mitgefühls in unseren Mitmenschen und erinnern sie daran, dass wir einander brauchen und niemals alleine ganz Mensch sein können. „Ich bin, weil du bist“, lautet ein Sprichwort in vielen afrikanischen Sprachen. Anders ausgedrückt, ein Mensch wird erst durch andere Menschen ein Mensch. In Südafrika sprechen wir von „Ubuntu“, der Großmut auf dem gemeinsamen Weg zur Ganzheit. Wenn behinderte Menschen wie ich einen Platz an der Sonne verlangen, bitten wir unsere Mitmenschen nicht nur darum, nett zu uns zu sein. Unsere Botschaft lautet vielmehr: „Ohne uns könnt ihr keine echte Gemeinschaft erlangen.“ Wir wollen kein Mitleid, sondern Gerechtigkeit. „Schließt uns nicht nur in eure Gemeinschaft mit ein, lasst uns vielmehr gemeinsam eine schaffen“, sagen wir. Das ist eine völlig andere Auffassung.

      Manchmal frage ich mich, warum ich den Anschlag überlebte, während ich so viele meiner Freunde zu Grabe getragen und ihnen Lebewohl gesagt habe. Ich glaube, dass die Spuren des Anschlags Zeugnis ablegen von den Grausamkeiten, zu denen wir Menschen fähig sind, und diejenigen als Lügner entlarven, die diesen Horror leugnen oder kleinreden. Wichtiger aber noch ist meines Erachtens, dass Menschen, die sichtbar unter Krieg und Folter gelitten haben, liebevolle Reaktionen in anderen Menschen hervorrufen, was wiederum ein Zeichen dafür ist, dass Gerechtigkeit, Frieden, Güte, Mitgefühl [32]und Hingebung stärker sind als Hass, Gottlosigkeit und Tod. Das ist die Botschaft der Erlösung.

      Am 27. April 1991 wurde in der anglikanischen Kirche in Harare ein Dankgottesdienst abgehalten, um den ersten Jahrestag meiner Rettung zu feiern. In meiner Ansprache erklärte ich der Kirchengemeinde, dass ich nur dank ihrer Unterstützung und der Hilfe Gleichgesinnter in aller Welt den Sieg davontragen konnte, und ich schloss mit den Worten:

      „Diejenigen, die mir die Briefbombe schickten, sind eher Opfer als ich. Der Anschlag hat nicht nur meinen Glauben und mein Mitgefühl vertieft, sondern auch dazu geführt, dass ich meine Ganzheit verstanden und mich noch stärker für Gerechtigkeit und Freiheit in Südafrika und in der ganzen Region eingesetzt habe … Deswegen sage ich Euch jetzt, herzlichen Glückwunsch! Wir haben gewonnen! Der Sieg ist unser! Makorokoto!“

      [33]Teil II

      Freiheitskämpfer

      [34]

      Mit meinem geliebten Stoffhasen

      Bei meiner Ordinierung mit 24

      Das einzige Bild meiner kompletten Familie.

       Hinten: Peter, Irene, Mutter, Vater, Ian und ich. Vorne: Margaret, Barbara und Helen

      [35]4

      Von Haus aus gläubig

      Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, besitzen die meisten von uns doch Prinzipien, die ihnen als moralische Richtschnur dienen. Für mich war diese Richtschnur immer das Evangelium, das uns dazu aufruft, menschliche Würde und Gerechtigkeit ohne Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen zu verteidigen. Als Christen wissen wir, dass letzten Endes Gutes dem Bösen entspringt und Leben dem Tod. Wenn man dies ernst nimmt, dann spornt der Glaube dazu an, sich politisch zu engagieren. „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun“, ist eines meiner Lieblingszitate; es stammt von dem irischen Staatsmann Edmund Burke. Folglich war der Freiheitskampf in Südafrika für mich von Anfang an eine Frage des Glaubens. Die Apartheid war ein System, das durch den Mord an den Seelen von Weißen und Schwarzen gegen Gottes Willen verstieß. Der Mut, seine Worte direkt an das Machtzentrum zu richten und seinem Glauben gemäß zu handeln, kommt weder leicht noch über Nacht. Er wird über Jahre hinweg geformt und auf die Probe gestellt und beginnt als ganz allmählicher Prozess bereits in der Kindheit. In der Bibel steht: „Als ich ein Kind war, / redete ich wie ein Kind, / dachte wie ein Kind / und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, / legte ich ab, was Kind an mir war“ (1 Kor 13,11). Der Glaube ist eine Lebensaufgabe.

      Ich bin in einer kleinen Stadt namens Hastings in Neuseeland aufgewachsen. Als Ziergärtner gestaltete mein Vater im Auftrag des Stadtrates schöne öffentliche Anlagen. Er war in der Gemeinde sehr bekannt. Die Menschen sahen ihn in den städtischen Gärten arbeiten und erfreuten sich an den Blumen, die er pflanzte. Meine Mutter war ein ruhiger, bescheidener Mensch, deren tiefer Glaube in ihrer Hingabe an ihre Familie und die Kirche Ausdruck fand. Die Generation meiner Eltern wurde durch einige schwerwiegende Ereignisse geprägt. Eines, von dem uns Kindern immer wieder erzählt wurde, war das Erdbeben von Napier 1931, das sich genau an dem Tag ereignete, an dem meine Mutter auf die Oberschule kam. Das Gebäude brach über ihr zusammen. Jemand zog sie aus den Trümmern, kehrte ins Gebäude zurück und kam bei dem Versuch, weitere Menschen zu retten, ums Leben. Ohne sein mutiges Eingreifen wäre keiner von uns hier. Ich erinnere mich noch gut an die Angst in den Augen meiner Mutter, wenn es ein Erdbeben gab, was in unseren Breiten häufig vorkam. Mein Vater beruhigte sie dann, indem er einfach seine Hand auf ihren Arm legte.

      [36]Natürlich beeinflussten zwei weitere einschneidende Ereignisse die Kindheit und Jugend der Generation meiner Eltern: die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Kurz nach der Hochzeit meiner Eltern zog mein Vater in den Krieg. „Sein Blick sagt mir, dass er nicht zurückkommen wird“, soll meine Urgroßmutter gesagt haben, als mein Vater sich von meiner Mutter verabschiedete, und damit meine Großmutter richtig wütend gemacht haben. Wie wunderbar, dass sie doch unrecht hatte! Trotzdem sagte meine Mutter mir einmal: „Dein Vater zog in den Krieg, aber der Mann, der zurückkehrte, war nicht mehr derselbe, der weggegangen war.“

      Unsere vielköpfige Familie gehörte zum Arbeiterstand und verfügte nur über begrenzte Mittel. Ich bin das fünfte von sieben Kindern, und da wir so viele waren, hatten meine Eltern stets mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Gleichzeitig habe ich viele liebgewordene Kindheitserinnerungen. In den Jahren nach dem Tod meines Vaters, als wir bereits erwachsen waren, machten unsere Erfolge meine Mutter überglücklich. Sie liebte jeden von uns auf einzigartige Weise, genauso wie mein Vater es getan hatte. Wenn ich sie besuchte, rief manchmal eines meiner Geschwister an, und ich hörte genau zu, wie sie reagierte, wenn sie die Stimme eines ihrer Kinder hörte. Jedem von uns begegnete sie mit derselben Zärtlichkeit und

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