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seinem Freund im Jacaranda Coffehouse Kaffee zu trinken, oder verbrachte die Nachmittage damit, sich an einem einsamen Bier festzuhalten und auf der Jukebox im Ye Cracke Pub Rock ’n’ Roll-Songs zu hören. Natürlich hatte Paul sowieso mehr Lust, Zeit mit John zu verbringen, als sich durch die Lektionen und Aufgaben zu arbeiten, die auf seinem Pult im Liverpool Institute auf ihn warteten. Aber die Stunden, die sie miteinander verbrachten, waren auch emotional bedeutsam. Selbst wenn sie selten über den Schmerz sprachen, den der Tod ihrer Mütter in ihnen ausgelöst hatte, sorgte das gemeinsame Empfinden und Johns große, noch offene Wunde für eine Verbindung, die ebenso kraftvoll war, wie sie unausgesprochen blieb. Paul sprach später von einem „ganz besonderen Band, etwas, das uns gehörte, etwas Besonderem“57. Selbst wenn man nur schweigend dasaß und mit dem Kopf im Takt von Elvis’ „All Shook Up“ oder Gene Vincents „Blue Jean Bop“ nickte – wenn man dann den anderen ansah, war es, als erhascht man einen Blick auf die Seele eines Menschen, der ebenfalls genau wusste, dass diese Songs auch das allerschlimmste Schweigen füllen konnten. „Wir sahen einander an“, sagte Paul, „und wussten Bescheid.“

      Paul begann, seine Mittagspause größtenteils in der Cafeteria der Kunsthochschule zu verbringen, mit John und seinen älteren Freunden zu essen und zu rauchen. Schließlich begleitete ihn auch George dorthin, und wenn jemand eine Gitarre dabei hatte (und das war bei Paul und George meistens der Fall), dann packten sie das Instrument aus und sangen gemeinsam ein paar Songs. Wenn es auch den Studenten zunächst komisch vorkam, dass ihre Cafeteria von Jugendlichen in Schuluniformen gestürmt wurde, über die Musik beschwerte sich niemand. Irgendwann gehörte Lennon mit seinen Bubi-Kumpels einfach zum Gesamtbild. „Sie waren so oft dort, dass ich sie immer nur die College-Band nannte“58, sagt Harry.

      Ein Bandmitglied, das bei diesen Mittagssessions nie auftauchte, war Schlagzeuger Colin Hanton, der die Schule verlassen hatte, um eine Lehre als Polsterer zu machen. Er hatte außerdem eine Freundin und war Anfang 1959 zu dem Schluss gekommen, dass die Sache mit den Quarrymen ihr natürliches Ende gefunden hatte. „Ich hatte nie das Gefühl, dass es für uns irgendwohin ging. Jedenfalls hatte ich in der Hinsicht auch gar keinen Ehrgeiz. Ich war nur aus Spaß und wegen des Guinness mit dabei“59, sagt er. Aber als es Paul gelungen war, einen Gig in einem Arbeiterclub zu organisieren, packte Hanton dann doch wieder sein Schlagzeug zusammen und war bereit mitzuspielen. Das erste Set der Band lief so gut, dass der Clubbesitzer sie zur Bar führte und ihnen in der Pause Bier auf Kosten des Hauses anbot. Leider blieb es nicht bei einem. „Als das zweite Set begann, waren John, Paul und ich ziemlich besoffen. Und das ganze Programm verkam zu einer betrunkenen Katastrophe.“

      Es kam jedoch noch schlimmer. Ein Manager, der zu der Vorstellung gekommen war, um herauszufinden, ob die Quarrymen die richtige Band zur Pausenunterhaltung in einer Bingohalle waren, erschien nach dem Konzert in der Garderobe und erläuterte ihnen genüsslich, weswegen er ihnen kein Engagement anbot. Strikt zurückgewiesen und immer noch betrunken, stolperten die Musiker zur nächsten Bushaltestelle und fuhren nach Hause. Paul begann, mit der typisch betonungsfreien Art eines Gehörlosen zu sprechen. Es war ihre neueste Masche, eine bösartige Imitation, von der er wusste, dass sie John aufheitern würde, der stets einen perversen Spaß daran hatte, sich über Behinderte lustig zu machen. Beide wussten jedoch nicht, dass Hanton auf der Arbeit einen Freund hatte, der taub war und genauso sprach. Nach diesem beschämenden Abend, vielleicht aber auch wegen der Tatsache, dass Paul ihn schon seit Monaten ständig verbessert hatte, explodierte Hanton endlich.

      „Ich baute mich vor Paul auf und sagte ihm, er sollte verdammt noch mal die Klappe halten“, sagte Hanton60. „Er wirkte schockiert. Das hatte er wohl nicht erwartet. Ich wusste, dass er niemand Besonderen nachmachte, es war einfach diese Stimme. Aber das und die Sache mit dem Kerl von der Bingohalle gaben mir den Rest. Ich packte mein Schlagzeug oben auf meinen Kleiderschrank, und das war das letzte Mal, dass ich den Jungs begegnet war.“

      Kapitel 4

      Manchmal nach der Schule trennte Paul sich von seinen Freunden und ging alleine die Lime Street hinunter in Richtung Stadtzentrum. In der Erwachsenenwelt der Büroangestellten klappte er den Kragen seiner Jacke hoch und zog eines jener ernsten Bücher hervor, die er mittlerweile las. Die Werke von Tennessee Williams, Oscar Wilde oder George Bernard Shaw, vielleicht auch eine der seriöseren Zeitungen … Paul hatte normalerweise mindestens eine in seiner Umhängetasche, und wenn er allein unterwegs war, dann setzte er sich oft eine Weile irgendwo hin und las ein paar Seiten. Er dachte über die Worte nach, natürlich, aber auch über die Gesichter der Männer und Frauen um ihn herum. Woher kamen sie? Was dachten sie? Er lauschte ihren Unterhaltungen und versuchte die Gefühle hinter ihren Witzen, ihrem Lachen und ihren Seufzern zu erfassen. Für ihn war alles ein großes Theaterstück, eine weitere Szene des großen Werks, das er ständig in seinem Kopf erschuf.

      „Ich machte mich ganz bewusst daran, Material zu sammeln“61, sagte Paul. „Mir gefiel der Gedanke, ein Künstler zu sein. Ich bereitete mich darauf vor. Zwar wusste ich nicht, wie ich das bei meiner Herkunft bewerkstelligen sollte … aber mein ganzer Kopf war voll davon, das war wie ein Rausch.“

      Über die Jahre, die er das Liverpool Institute besucht hatte, waren ihm das eigene intellektuelle Potenzial und die Horizonte, die es ihm eröffnen mochte, immer mehr bewusst geworden. Inspiriert hatte ihn vor allem der Literaturunterricht von „Dusty“ Durband, einem jungen Lehrer mit leuchtenden Augen, der bei seinen Schülern die Begeisterung für Geoffrey Chaucer zu wecken verstand, indem er auf die unanständigen Stellen in der „Erzählung des Müllers“ hinwies und die blutigen Action-Elemente in Hamlet und anderen Shakespeare-Dramen hervorhob. Durband war dabei dennoch sehr bodenständig, was für einen Jungen aus der Arbeiterklasse, wie Paul einer war, sehr wichtig war. Aber ebenso bedeutsam war es angesichts der Aufsteiger-Ambitionen, die Paul hegte, dass Durband beeindruckende Empfehlungen vorweisen konnte. Er hatte in Cambridge zusammen mit dem einflussreichen Literaturkritiker F.R. Leavis studiert und bereits ein Theaterstück geschrieben, das die BBC als Hörspielfassung gesendet hatte. Jahrzehnte später beschrieb Paul ihn als den „besten Lehrer für englische Literatur, den es je gab“62.

      Durband entdeckte sehr schnell, dass Paul etwas Besonderes hatte, und er empfahl ihm häufig Bücher, die andere Oberschüler nicht im Traum rein zum Vergnügen angefasst hätten – daher stammte Pauls Vorliebe für Williams, Wilde und Shaw. Vor allem aber half Durband seinem pausbäckigen Schüler, den Zusammenhang zwischen Kunst, Intellektualität und Rebellion zu erkennen.

      Die Vorstellung, Akademiker zu werden, verführte Paul dazu, sich wie ein Collegestudent zu kleiden und zu benehmen. Er besuchte Kunstseminare an der Liverpooler Universität und kaufte sich Studententickets für die Theaterstücke, die in den Schauspielhäusern Royal Court und Liverpool Playhouse aufgeführt wurden. „Ich versuchte mich auf das Dasein als Student vorzubereiten“63, sagte er. Wenn Unterricht und Bühne zusammenkamen, interessierte ihn dies doppelt. Paul bewarb sich um die Hauptrolle in der Schulaufführung von George Bernard Shaws Die heilige Johanna, die jedoch der ältere, bühnenerfahrene Peter Sissons erhielt; Paul musste sich mit einer stummen Rolle zufriedengeben.

      Dennoch war Paul, rein akademisch betrachtet, nur mittelmäßig. Seine Begeisterung für seine Gitarre und die Quarrymen – oder auch nur dafür, mit John zu spielen und zu singen – drängte seinen Ehrgeiz, die Hausaufgaben fertig zu machen oder überhaupt erst einmal anzufangen, oft in den Hintergrund. Als die nächsten entscheidenden Prüfungen, die sogenannten O-Levels, anstanden, absolvierte er sie über zwei Schuljahre verteilt. Nur in Spanisch bestand er gleich im ersten Jahr, bei der nächsten Runde konnte er jedoch fünf weitere Fächer abschließen. Die A-Levels, die nächsthöhere Prüfungsstufe, versuchte er nur in zwei Fächern und bestand lediglich in Englisch.

      Insgesamt brillierte Paul vor allem in Fächern, in denen es mehr auf natürliches Talent als aufs Lernen ankam. Glücklicherweise besaß er eine schnelle Auffassungsgabe und konnte sich verschiedene Themen schnell aneignen. Visuelle Darstellungen fielen ihm ungewöhnlich leicht. Für seine Zeichnungen und Bilder erhielt er oft Bestnoten, und er war häufig an prominenter Stelle in den Kunstausstellungen der Schule vertreten. Er gewann einen Sonderpreis für Kunst beim jährlichen „Speech Day“, einer Festveranstaltung des Liverpool Institute im Dezember 1959. Doch seine mangelnde Bereitschaft, mehr Energie und Zeit auf das Lernen

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